Erschienen in Philosophie Magazin Nr. 82 Juni / Juli 2025 (04) unter dem Titel Und wenn beides wahr wäre?. Hier folgt die Autorenfassung mit Fußnoten und leichten Abweichungen vom publizierten Text.

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Mehrdeutigkeit – technisch gesprochen: Ambiguität – ist tief in der Realität angelegt und lässt sich aus ihr nicht vertreiben. Geeignete Denkmittel ermöglichen einen produktiven Umgang mit dissonanten Wahrheiten. So entsteht eine Perspektive, uneins und doch gemeinsam wirkungsvoll zu handeln.
Die einen meinen dies, die anderen etwas anderes. Man ist sich uneins – nun gut. Aber müssen wir einander deshalb gleich derart verabscheuen? Es liegt doch auf der Hand, dass man zu den großen Fragen unserer Zeit – Migration, Energie, Klima, Wirtschaftsordnung, Globalisierung, Gendern usw. – verschiedene, einander widersprechende, aber jeweils gut begründete, also valide, vor allem aber legitime, weil nicht gegen Grundstandards der Wahrhaftigkeit oder der Menschlichkeit verstoßende Auffassungen haben kann.
Und ebenso offensichtlich ist doch, dass niemand für eins der oben genannten Probleme die Patentlösung kennt. Jeder empfiehlt seine Rezepte, aber wer behaupten würde, er könne sicher vorhersagen, was bei ihrer Anwendung herauskommt, entlarvte sich damit als unseriös.
Wir leben in einer Zeit der Ungewissheit. In einer Welt der offenen Szenarien, der konkurrierenden Hypothesen, der schwankenden Wahrheiten – in einer taumelnden Wirklichkeit. Aber anstatt uns gewandt und elastisch in ihr zu bewegen, stehen wir stocksteif da und schreien einander an: Du bist es, Kollege, der mit seiner Dummheit und Niedertracht diese Wogen aufwühlt, die uns derart ins Schlingern bringen! Hör auf damit! Verschwinde!
Was für eine traurige Täuschung, der wir da aufsitzen. Und eine verhängnisvolle. Nicht nur für unseren Umgang miteinander, sondern vor allem auch für unsere Fähigkeit, wirkungsvoll zu handeln.
Klima, Gender, etc.
Die Klimaproblematik, zum Beispiel. Man kann, was die Maßnahmen zur Eindämmung der Erderwärmung angeht, sowohl einen ökomodernistischen Standpunkt vertreten, der auf neue Technologien und Atomkraft setzt, wie ein Programm des negativen Wachstums („Degrowth“) einfordern, das den Verzicht auf Konsum und Energieverbrauch in den Vordergrund stellt. Beide verbinden sich schlüssig mit der Faktenlage; beide lassen sich konsistent argumentativ vertreten. Ebenso, was restriktive oder permissive Regelungen zu Migration angeht, Verwendung oder Vermeidung von Gendersternchen, die Frage systemischer postkolonialer Kompensationspflichten (im Rahmen der Globalisierungsthematik) et cetera: Man kann immer von zwei Seiten herangehen – mindestens. Und meistens auch mit Fug und Recht – von marginalen Extremismen wie, sagen wir, Rassen-Ideologien „weißer Überlegenheit“ oder offensichtlicher Falschheiten wie der „flachen Erde“ einmal abgesehen.
Zwieschlächtige Wirklichkeiten
Der Grund dafür, dass „die anderen“ so abwegige (unserer Meinung nach) Ansichten vertreten, liegt in den wenigsten Fällen in den intellektuellen Defiziten dieser Personen oder in ihren verachtenswerten Motivationen. Schuld haben fast immer die Sachen selbst. Schließlich gibt es heute kaum ein Problem von politisch-gesellschaftlicher Relevanz, das nicht von tiefer Zwieschlächtigkeit, tiefer Ambiguität geprägt wäre.
Ambi- bedeutet „beide“. Die Psychologie kennt die Ambivalenz – die innerlich zwiespältige, janusköpfige Haltung einer Person gegenüber einer Sache oder einer Situation (Valenz: Wertigkeit, z. B. von Gefühlen). Sind die Dinge selbst zwiespältig, dann sind sie ambig (Betonung auf dem „i“ – das Adjektiv zu Ambiguität). Ambige Phänomene schillern; sie erscheinen bald so, bald anders; sie sind nur unvollständig empirisch überprüfbar und erfordern daher Deutungen, ja regelrechte Deutungskonstruktionen – die in sehr unterschiedliche, ja gegenläufige Richtungen weisen können, ohne dass ein Kompromiss zwischen ihnen möglich wäre.
Besonders explosiv werden ambige Situationen, wenn moralische Aspekte eine Rolle spielen. Beispiel: Flugscham. Ist es nützlich oder schädlich, wenn über die Klimawirksamkeit individueller Handlungen wie Autofahren oder Fliegen in moralischen Kategorien gesprochen wird? – Beides. Es ist nützlich, weil gemeinschaftsrelevante Verhaltensweisen sehr wirkungsvoll reguliert werden, wenn das individuelle Gewissen der Menschen sich ihrer annimmt. Der Soziologe Norbert Elias sah derartige Moralisierungen sogar als zivilisationsbildend an.1 Es ist aber zugleich auch schädlich, weil moralische Debatten – zumindest, wenn man dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann folgt2 – bestehende Konflikte nur noch weiter auf die Spitze treiben, was es für die Gesellschaft weitaus schwieriger macht, wirkungsvolle Maßnahmen umzusetzen. Gerade beim Klimathema, das ja nun in exemplarischer Weise alle betrifft, kann man das nun wirklich nicht gebrauchen. Die früh verstorbene neuseeländische Soziologin Amanda Rohloff hat dieses schwankende Sowohl-Als-Auch der Klimamoral eingehend untersucht. Ein lesenswerter Sammelband: Climate Change, Moral Panics and Civilization3.
Der feine Unterschied
Ob Fliegen oder Genderstern, ob Nahost oder Glyphosat – immer ist die Ambiguität auf fundamentalster Ebene angelegt und durch kein noch so potentes Mittel zu vertreiben.
Und in den allermeisten Fällen bleibt, wenn man die Summe der jeweiligen Argumente bildet (oder sich vorstellt, man könne das tun), also Bewertungs-Achsen wie sachliche Richtigkeit, theoretische Stringenz, praktische Realisierbarkeit, ethische Integrität, langfristige Prognostizierbarkeit usw. in eine gedachte Gesamtqualität oder „überalles-Qualität“ integriert, die Überlegenheiten der einen Seite über die andere minimal. Sie sind relevant, das stimmt, womöglich sogar schicksalhaft-entscheidend – und doch in letzter Hinsicht nur ein Hauch, ein Mikron, ein My (oder „Mü“). Und über das bekommen wir uns so in die Haare?
Warum stellen wir uns diesen Ambiguitäten nicht? Warum machen wir sie nicht zum Thema, warum setzen wir uns nicht mit ihnen auseinander? Warum werfen wir einander stattdessen Inkompetenz, Dummheit, moralische Verwahrlosung vor? – Ich denke, es gibt zwei Sorten von Gründen dafür: prinzipielle Vorbehalte gegenüber allem Doppel- und Mehrdeutigen und das Fehlen tauglicher Denkmittel.
Beidheitsbedenken
In der Tat lässt sich ja gegen die Beidheit so einiges vorbringen. Zunächst einmal natürlich, dass bei weitem nicht alles beidheitlich ist. Über die Kugelform der Erde oder die historische Faktizität des Holocaust kann es keine Diskussion geben: Dies sind eindeutige Wirklichkeiten ohne Spuren irgendeiner Ambiguität.
Überhaupt – die Fakten. Macht man nicht, wenn man sich derart ernsthaft auf Mehrdeutigkeit einlässt, ein Fass auf mit einem hochgefährlichen Inhalt, nämlich der Säure des Relativismus? Die einem den Boden der Tatsachen unter den Füssen zerfrisst? Und irgendwann ist dann gar nichts mehr wahr, alles nur noch eine Frage des Blickwinkels?
Erste Bürgerpflicht ist ohne Frage, Mehrdeutigkeiten und Eindeutigkeiten so genau wie möglich auseinanderzuhalten. Denn Beidheit ist nicht harmlos. Sie kann zum Beispiel taktisch missbraucht werden, indem man das Bestehen alternativer Sichtweisen nur vorgaukelt, um einen Diskurs zu kapern (das Problem der false balance). Umgekehrt kann genau dieser Vorwurf – nämlich, dass jemand angeblich nur Scheinalternativen bietet – für den Versuch genutzt werden, abweichende Positionen, die eigentlich gut begründet wären, aus der Diskussion herauszuhalten.
Man sollte sich von derlei Schwierigkeiten aber nicht ins Bockshorn jagen lassen. Fehler und Irrtümer lauern sowieso in jedem Akt der Kognition, und es fragt sich, was folgenschwerer ist: eindeutigen Tatsachen leichtfertig Beidheit zuzuschreiben oder ambige Sachverhalte fälschlich zu vereindeutigen. Im einen Fall riskiert man, sich unnötig in Belanglosem zu verzetteln oder falschen Fährten nachzulaufen, im anderen, wertvolle Erkenntnisse und Handlungsmöglichkeiten zu verpassen. Das zweite, scheint mir, ist derzeit die größere Gefahr.
Denkmittelknappheit
Selbst wenn man bereit ist, es mit der Beidheit aufzunehmen: Leicht ist das nicht. Unser Denken drängt aus einer tiefen Gewohnheit heraus auf Eindeutigkeit. Was haben die Pioniere der Quantenphysik um Anerkennung kämpfen müssen dafür, dass das Sowohl-Als-Auch von Teilchen und Welle eine Grundeigenschaft der Materie ist! Und die uns vertraute Logik – mit Aristoteles als Urvater – zwingt uns förmlich, auftauchende Widersprüche wo immer es nur geht zu tilgen.
Aber auch sie ist nicht in Stein gemeißelt. Die klassische indische Logik etwa, die auch den Buddhismus geprägt hat, teilt Aussagen nicht nur in wahre oder falsche ein, sondern stellt darüber hinaus die Optionen weder-noch und sowohl-als-auch zur Verfügung. Das macht sie gegenüber Widersprüchen wesentlich toleranter. Heutzutage sind unzählige weitere Logiken entwickelt worden, von denen eine ganze Klasse – die sogenannten parakonsistenten Logiken – ohne die Annahme auskommt, die Akzeptanz eines logischen Widerspruchs öffne das Höllentor zu beliebigen sinnlosen Schlussfolgerungen (das berühmte ex falso quodlibet sequitur). In Form der dialethischen Logik (di-aletheia – zwei Wahrheiten) fegt sie sogar den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch vom Tisch – die Regel, dass zwei einander widersprechende Aussagen nicht zugleich wahr sein können4. Sollten die Ergebnisse aus solchen Spezialgebieten eines Tages Einzug ins alltägliche Bewusstsein halten, könnte sich unser Umgang mit Widerspruch und Ambiguität grundlegend verändern.
Die Schwierigkeiten mit der Beidheit beginnen aber schon mit den ganz alltäglichen Worten. Begriffe sollen in sich stimmig sein: Wenn etwas grün ist, dann bitte nicht zur gleichen Zeit auch rot; und etwas Eckiges hat nicht rund zu sein. Folgt einmal ein Begriff dem nicht, so betrachten wir ihn als eine extravagante Ausnahme (bittersüß, Hassliebe, stummer Schrei), die ihren Platz in Poesie und Kunst hat und wenig zu belastbarer Erkenntnis beisteuern kann.
Das könnte, angesichts des gutschlechten Gendersterns (er schafft mehr Gleichheit und sabotiert die Geschmeidigkeit der Sprache) oder des Schadnutzens der Kernkraft (sie schadet durch Endlagerproblem und Strahlenbedrohung; sie nutzt durch CO2-Vermeidung und Versorgungssicherheit) aber ein Fehler sein. Vielleicht sollten wir uns viel bereitwilliger auch mit der unterdrückend-befreiendenWirkung der marktbasierten Wirtschaftsordnungen auseinandersetzen oder uns fragen, wie wir mit politischen Schurkenpartnernumgehen? Immerhin kennt das Englische den frienemy, den Freundfeind. Solche Begriffs-Chimären mögen skurrile Physiognomien zur Schau tragen, können sich aber als sehr hilfreich entpuppen.
Produktive Ratlosigkeit
Beidheit – im Sinne realer, konträr deutbarer, nicht eliminierbarer Ambiguität – wird sich nicht von heute auf morgen angemessen denken lassen. Es braucht dafür eine andere Logik, eine andere Begrifflichkeit, andere Vorstellungen von Wahrheit, Geltung und Wirklichkeit. Aber man könnte einen Anfang machen mit einem Eingeständnis: dem der Ratlosigkeit.
Sie stellt sich ein, wenn ich ein Problem in alle Richtungen erkundet habe, wenn ich alle möglichen Optionen und Argumente zur Kenntnis genommen habe und dennoch einsehen muss, dass der Unterschied an überalles-Qualität (an „Wahrgutheit“ oder, um diesen Ausdruck einmal bei der Finanzwelt auszuleihen, an „Bonität“) zwischen meinem Standpunkt und dem meiner Gegner, ungeachtet aller praktischen Unvereinbarkeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit sehr klein, ja winzig ist.
Man könnte diese Ratlosigkeit auch als eine abgeklärte Demut bezeichnen. Sie entsteht nicht aus Unwissen, sondern im Gegenteil gerade aus Kompetenz heraus. Und sie schafft, über alle Uneinigkeit der Parteien hinweg, die Grundlage für Verständigung. Denn wir sitzen alle (ausgenommen diejenigen ohne, wie soll man sagen – guten Willen?) im selben Boot.
Aber natürlich genügt das Sitzen nicht, Handeln ist gefragt. Angesichts realer Beidheit erfordert es besondere Rezepte: solche, die den Widerspruch nicht eliminieren, sondern ihn integrieren und nach Möglichkeit aus ihm sogar Momentum und Elan beziehen.
Paradox handeln
Im Fall des Gendersterns etwa können gegensätzliche Lösungsansätze parallel zueinander laufen: Einige Sprechercommunities mögen die Vorschläge der geschlechtergerechten Sprachgestaltung umsetzen („Politiker*innen sind oft machtversessen“), andere hingegen ihr Augenmerk auf eine geschlechterübergreifende Interpretation der bislang gebräuchlichen Sprachformen richten („Wanderer sind meist naturverbunden“).
Die Grenzen hingegen kann man nicht gleichzeitig öffnen und sie schließen. Man kann aber auch nicht nur das eine oder nur das andere tun, da – auf die einfachste Formel gebracht – eine restriktive Migrationspolitik massive humanitäre Probleme aufwirft, eine permissive hingegen gesellschaftliche und politische Schwierigkeiten nach sich zieht. Migrationserleichternde und migrationserschwerende Maßnahmen lassen sich aber je nach Rahmensituation unterschiedlich gewichten, wie dies ja in den Demokratien Europas auch getan wird.
Beim Klima schließlich bietet sich paradoxes Handeln in Reinform an: Wir können Emissionen reduzieren und zugleich Technologieninnovieren, wir können schrumpfwachsen – ja wir sollten das sogar tun! Denn die Selbstbeschränkung kann sich als wirkungsschwach und wirtschaftlich schädlich erweisen, die Versprechen von Technologien wie CO2-Abscheidung oder Fusionskraftwerken als trügerische Utopie. Unter den Bedingungen von Ambiguität und Beidheit zu agieren, heißt auch, Wetten einzugehen und Risikomanagement zu betreiben.
All das erfordert Zugeständnisse. Der Ratlose ist für sie offen. Denn anders als jemand, der sich uneingeschränkt im Recht glaubt, blockiert er eine Entscheidung nicht, nur weil sie ihm unvollkommen erscheint oder den eigenen Vorstellungen zum Teil zuwiderläuft. Er ist – wissend, dass es die eindeutig richtige Lösung nicht geben kann – bereit, auch für ihn problematische Maßnahmen mitzutragen, wenn auch mit einer Portion Widerwillen und zähneknirschend. In diesem Sinne macht Ratlosigkeit – paradoxerweise, wenn man so will – überhaupt erst handlungsfähig.
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- Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, 1939 / 1997 ↩︎
- siehe etwa der Sammelband Niklas Luhmann, Die Moral der Gesellschaft, Suhrkamp Ff/M 2008. ↩︎
- Amanda Rohloff, Climate Change, Moral Panics and Civilization, London (Routledge) 2018 ↩︎
- Graham Priest, Paradoxie und Parakonsistenz, in: Bauer, Alexander Max; Damschen, Gregor; Siebel, Mark (Hg), Paradoxien: Grenzdenken und Denkgrenzen von A(llwissen) bis Z(eit). Paderborn: Brill | Mentis 2023 https://brill.com/edcollchap/book/9783969752517/BP000016.xml ↩︎