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Warum nicht „Dr. Krohs“?

Ein Professor wirft mich aus seinem Büro. Meta-wissenschaftliche „synthetische Philosophie“ nach Eric Schliesser. Para-akademische Denkräume. ⚠️ Mind the „footnotes“!

Dr., Prof., Prof. Dr. etc. pp. – gefühlt 80% der Leute in meinem professionellen Umfeld tragen solche Titel. Ich nicht. Ich bin nicht Dr. Krohs. Und lege eigentlich sogar Wert darauf, es nicht zu sein. Denn ich bin überzeugt: Es denkt sich ausserhalb der Universität nicht schlechter als innerhalb des akademischen Betriebs. Und hinter meinem Nicht-Doktor steht eine ganze Reihe guter Gründe.

1. Über die Universität
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Der erste unter ihnen kam zum Vorschein, nachdem ich meinem Fribourger Philosophie-Professor Evandro Agazzi das Thema meiner geplanten Abschlussarbeit vorgestellt hatte. „Klingt gut.“, sagte Agazzi. „Aber bei den Abschnitten, die Sie da zur Embryologie planen, muss ich ein wenig passen. Gehen Sie doch mal zu Rager. Der ist da Spezialist!“

Mitte der 1990er Jahre waren Abtreibung und Embryonenschutz Gegenstand heftigster Diskussionen. Ich wollte diese Fragen aus dem Blickwinkel moderner Reformulierungen von Haeckels „Biogenetischer Grundregel“ betrachten, also der Idee, dass der Embryo in seiner Entwicklung allerlei „ältere“, „tierische“ Evolutionsphasen im Schnelldurchgang rekapitulierend durchläuft. In ihrer starken Form, wie von Haeckel vertreten, hat sich diese These zwar als unzutreffend herausgestellt, schwächere Varianten sind aber im Rahmen der heutigen Genetik und Entwicklungsbiologie weiter von Interesse (Stichwort: Hox-Gene). Liess sich aus ihr etwas über die Schutzwürdigkeit des Embryos in seinen verschiedenen Entwicklungsstadien ableiten?

Prof. Dr. Günter Rager, Ordinarius für Anatomie und Embryologie, gab mir einen Termin.

Es konnten nicht mehr als ein paar Minuten vergangen sein, bis der Name Blechschmidt fiel, den ich nicht einordnen konnte.

Blechschmid, sagte Rager – er, Rager, habe selbst bei ihm studiert – habe bereits vor 30 Jahren bewiesen, dass das nicht stimmt.

„Er hat bewiesen, dass was nicht stimmt?“, fragte ich höflich nach.

„Die Sache mit der Rekapitulation. Es gibt keine Kiemenspalten beim menschlichen Embryo, zu keinem Zeitpunkt seiner Entwicklung. Hier.“

Rager holte eine Tafel mit Embryonen-Zeichnungen hervor und begann, mir in schneller Folge anatomische Details aufzuzeigen, die, wie er sagte, jeden Gedanken daran, Blastula oder Embryo könnten auch nur entfernt irgendetwas mit evolutionär früheren Lebensformen zu tun haben, ab absurdum führten.

„Nun ja“, wand ich ein, „dass Haeckels These nicht wörtlich zu nehmen ist, ist ja allgemein bekannt, dennoch …“ – „Es gibt kein dennoch!“, unterbrach Rager mich. „Der menschliche Embryo ist vom Zeitpunkt der Befruchtung an eine vollwertige Person!“

„Sehen Sie“, versuchte ich ein offenbar drohendes, mir aber noch nicht begreifliches Unheil abzuwenden, „genau diese Frage, also den Zusammenhang der Entwicklungsbiologie mit der Personfrage, beziehungsweise umgekehrt, den möchte ich ja untersuchen …“ – „Damit kommen Sie nicht durch!“ – sagte er das? Oder sagte er: „Vergeuden Sie nicht meine Zeit!“? Oder: „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“? Ich weiss nur, dass unsere Unterredung damit endete, dass er laut wurde, dass ihm der Zorn ins Gesicht schoss, dass er aufsprang, sich vor mir aufbaute und mich anfuhr: „Und nun verlassen Sie mein Büro!“

Fassungslos trat ich aus der medizinischen Fakultät auf den Boulevard de Perolles.

Am Abend recherchierte ich, was es mit dem Namen Blechschmidt auf sich hatte. Erich Blechschmidt (1904–1992) war ein Anatom und Embryologe in der Tradition von Wilhelm His (1831–1904). Wilhelm His seinerseits war der grosse Gegenspieler von Ernst Haeckel, dem Urheber der Rekapitulations-These, dem er in der sogenannten „Embryonenkontroverse“ der 1870er Jahre vorwarf, er habe seine „Kiemenspaltenbilder“ gefälscht. Auch vom Darwinismus, den Haeckel leidenschaftlich vertrat, hielt His – eine anerkannte Koryphäe der Neuroanatomie – nicht viel.1

Titelseite einer Publikation aus der „Embryonenkontroverse“: Das Affen-Problem: Professor E. Haeckel’s neueste gefälschte Embryonen-Bilder, von Arnold Braß. Biologischer Verlag, Leipzig, 1908

Blechschmidt übernahm von His sowohl die Haeckel-Feindschaft wie auch die Geringschätzung Darwins, die er mit einer Ablehnung der modernen Genetik kombinierte. Dazu war Blechschmidt ein ausgesprochener pro-life-Aktivist, der gegen Ende seiner Laufbahn in katholisch-konservativen Verlagen eine Reihe embryologisch argumentierender Manifeste gegen die Abtreibung publizierte.2 Sie trugen Titel wie Der Mensch – Person von Anfang an. Humanbiologische Befunde.

Person von Anfang an! Da war sie, die Formel, mit der mich Rager einen Kopf kürzer gemacht hatte.

War das die vielbeschworene Freiheit der Wissenschaft? Ich wusste ja, dass ich an einer katholischen Universität studierte. Was ich allerdings nicht erwartet hatte, war, dass eine katholische Medizin mir das Thema meiner wissenschaftstheoretischen und bioethischen Abschlussarbeit pulverisieren würde.3

Ich brauchte einige Tage, um mich von diesem, wie ich es empfand, brutalen Rausschmiss zu erholen. Dann machte ich mich auf die Suche nach einem neuen Thema. Bei der Evolutionsbiologie sollte es bleiben – sie war „meine“ Wissenschaft, über sie wollte ich philosophisch nachdenken.

Ich las buchstäblich alles, was mir in die Finger kam – von Internet-Recherche konnte 1994 noch keine Rede sein. An einem heissen Juni-Nachmittag zog ich einen kaum vier Jahre alten Tagungsband aus dem Bibliotheks-Regal: Symbiosis as a Source of Evolutionary Innovation, herausgegeben von der mir damals noch unbekannten Lynn Margulis von der University of Amherst gemeinsam mit René Fester​*​.

Ich zog einen kaum vier Jahre alten Tagungsband aus dem Bibliotheks-Regal: Symbiosis as a Source of Evolutionary Innovation, herausgegeben von Lynn Margulis und René Fester

Mit Herzklopfen blätterte ich durch die Beiträge: Wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was dort geschrieben stand, dann würde das einige meiner grundlegendsten Vorstellungen von Struktur und Mechanismen der Evolution über den Haufen werfen. Und die dazugehörigen philosophischen Überzeugungen gleich mit.

Denn der Band schien zu behaupten, dass das Lebendige nicht nur in Form eines sich verzweigenden Evolutionsbaum organisiert war (übrigens auch eine Lieblingsmetapher Haeckels), sondern dass es auch Fälle gab, in denen Abstammungslinien miteinander fusionierten und in denen nicht das Konkurrenz-, sondern das Kooperationsprinzip treibend für die Entstehung evolutionärer Neuerungen war.

Und diese Fälle waren basal. Zum Beispiel sind all unsere Zellen auf diese symbiogenetische Art und Weise entstanden. Und wir selbst sind dann, wie überhaupt alle höheren Lebewesen, eigentlich gar keine Individuen, sondern zu Pseudo-Individuen zusammengeschmolzene ehemalige Kolonien. Nicht Eines, aber auch nicht Viele, sondern gewissermassen Viel-Einse, Fusions-Organismen4.

Baum-Verschlingungen
Prinzip darwinistischer (links) vs. symbiogenetischer Verläufe von Abstammungslinie (eigene Darstellung)

Die Befunde von Margulis und ihren Kollegen waren damals noch sehr umstritten5. Ich begann ihnen nachzugehen, Empirie von Spekulation so gut es eben ging zu trennen und die möglichen Auswirkungen auf die damalige Standard-Formulierung der neodarwinistischen Evolutionstheorie im Detail zu durchdenken. Daraus wurde dann meine Abschlussarbeit, die mich nach damaliger schweizerischer Studienordnung zum lic. phil. machte​†​, dem Äquivalent des deutschen Magisters (ein neueres Write-Up dazu befindet sich hier).

Wohlweisslich hatte ich Agazzi diesmal nur den neuen Titel der geplanten Arbeit angekündigt und auf das Einholen weiterer Ratschläge verzichtet.

 „Ausgezeichnet.“, sagte er bei der Durchsicht. „Eine ungewöhnlich interessante Arbeit, Sie sollten sie publizieren! Sprechen Sie doch einmal mit meinem Freund Peter Janich. Er ist ein Spezialist für diese Dinge.“

Hätte ich misstrauisch sein sollen? Andererseits versetzt nichts einen 25-Jährigen, der sich für Philosophie begeistert, so sehr in Feuer und Flamme wie die Aussicht auf ein eigenes Buch. Noch dazu unter der Ägide eines der bekanntesten deutschen Wissenschaftstheoretikers – auch wenn die Evolutionsbiologie eher ein Nebenthema für ihn war.

Im ersten Brief, den ich von Janichs Lehrstuhl in Marburg zurückbekam, teilte mir sein Assistent mit, meine Arbeit sei gut angekommen, das Thema sei interessant und Herr Prof. Dr. Janich würde sich bald bei mir melden. Im zweiten erfuhr ich, Herr Prof. Janich habe die Arbeit nun durchgesehen. Leider hätte ich viele relevante Quellen nicht zur Kenntnis genommen, wie z. B. Janich neunzehnhundertsoundsoviel, Janich neunzehnhundertsoundsoviel und Janich neunzehnhundertsoundsoviel. Aber vielen Dank für meine Kontaktaufnahme.

Wie gesagt: Damals war noch nichts Theoretisches über die symbiogenetischen Prozesse in der Evolution geschrieben. Und wenn, dann wäre es schwerlich von Janich gekommen, der aus der Physik stammte und sich der Biologie erst später gelegentlich zuwandte.

Den ersten Brief besitze ich noch, den zweiten muss ich aus Wut zerrissen, zerkaut und in die Sarine gespuckt haben, die Fribourgs mittelalterliche Altstadt umschlängelt und sich dann in die Aare ergiesst und schliesslich in den Rhein.

Das also war sie, die Universität, die Kirche der Vernunft. Darum ging es in ihr. Nicht um gemeinsam zu erlangende Erkenntnis, nicht um den harten, aber fairen Wettstreit der Ideen, nicht um die immer neu zu lernende Kunst des scharfsinnigen Denkens. Es ging um sehr viel weniger hehre Dinge. Es ging um Ideologie und Eitelkeit.

Das festzustellen, war nicht schön. Dennoch: Ich hätte es vielleicht mit beiden aufgenommen. Wenn ich die Hoffnung gehabt hätte, an einer philosophischen Fakultät dann wenigstens so denken und arbeiten zu können, wie mir das richtig und sinnvoll erschien.

2. Über Philosophie
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Was Philosophie ist, was sie sein könnte und vielleicht auch sein sollte, die Frage ist zu sperrig für diesen kleinen Text. Aber es gibt zumindest zwei Denk-Methoden, die – neben manchen anderen – für die Philosophie ganz sicher konstitutiv sind und die dennoch an den akademischen Instituten partout keinen Platz finden, damals wie heute nicht. Nennen wir sie: das integrierende Philosophieren und das inventive Philosophieren.

Mit integrierendem Philosophieren meine ich das Philosophieren als eine Meta-Tätigkeit über den Disziplinen, ein Denken, das mit den Ergebnissen der Einzelwissenschaften arbeitet. Dabei ist der Anspruch nicht der einer vereinheitlichenden „Universalwissenschaft“ wie bei Comte oder Spencer. Sondern es geht darum, Einzelergebnisse zusammen- und auch gegeneinanderzudenken, Geltungsansprüche abzuwägen und nach Möglichkeit auf der Basis der anderen Disziplinen etwas Neues, originär Philosophisches hervorzubringen.

Der Wissenschaftstheoretiker Eric Schliesser hat ein solches Programm des Zusammendenkens in einem Aufsatz von 2019 synthetische Philosophie genannt​‡​ – ein Ausdruck, den ich gut nachvollziehen kann, trotz einiger Vorbehalte gegenüber den Konnotationen von „Synthese“6. Schliesser versteht sie als „eine Art der Philosophie, die Erkenntnisse, Wissen und Argumente aus den Spezialwissenschaften zusammenführt“ und die „neue Forschung in den Spezialwissenschaften hervorbringen [kann], eine neue, mit dem in der synthetischen Philosophie gewählte Framework zusammenhängende Wissenschaft, oder neue Projekte in der Philosophie.“

Als Beispiele diskutiert er die aktuellen Bücher von Daniel C. Dennett​§​ und Peter Godfrey-Smith​¶​ zur Entstehung des Bewusstseins. Beide Autoren greifen auf die Evolutionsbiologie zurück, tun aber wesentlich mehr, als nur einen Forschungsstand zusammenzufassen: Sie praktizieren neue Denkfiguren, die in den Einzelwissenschaften selbst nicht anzutreffen sind. Bei Dennett kreisen sie um den philosophisch-spekulativen Begriff des Memes, der als ein „mentales“ Pendant zum biologischen „Gen“ fungiert; bei Godfrey-Smith entstammen sie dem Vergleichen von menschlicher und nichtmenschlicher Intelligenz, konkret derjenigen des Kraken. In beiden Fällen entsteht aus dem fachlich kompetenten „Zusammendenken“ von Themen aus den Einzelwissenschaften eine neue, originäre Philosophie.

Ein solches integrierendes Meta-Philosophieren muss natürlich nicht auf die Biologie beschränkt bleiben, auch wenn diese sich aus verschiedenen Gründen besonders gut dafür eignet. Schliesser verweist als weiteres Beispiel auf einen der Gründungstexte der Umweltbewegung, Rachel Carsons Der stumme Frühling (1962)​#​. Im Grunde sind aber alle gegenwärtigen „Hyperproblematiken“, in denen sich Stränge aus den verschiedensten Einzelwissenschaften zum gordischen Knoten eines wicked problem verschlingen, Kandidaten für ein solches integrierendes oder synthetisierendes, dabei Neues generierendes Zusammendenken.

Das wir heute dringendst brauchen. Nach hundert Jahren einer derart intensiven Spezialisierung in den Wissenschaften, dass selbst angrenzende Disziplinen einander kaum mehr verstehen, nach der Fragmentierung der Öffentlichkeit durch die digitale Medialität, die droht, unseren sozialen epistemischen Raum zu zersprengen, ist es allerhöchste Zeit, den intellektuellen Habitus des Zusammendenkens, der – völlig zu unrecht – unter den Verdacht der Sehnsucht nach grossen Meta-Narrativen oder der politisch unengagierten Neutralität geraten ist, zu rehabilitieren. Denn noch einmal: Es geht nicht darum, der Illusion einer wie auch immer gearteten Universalwissenschaft nachzulaufen oder einer faustischen Synthese aller Erkenntnis. Es geht darum, das disparat Gewordene zueinander ins Verhältnis zu setzen und dabei gerade auch Widersprüche und Unvereinbarkeiten sichtbar und überhaupt erst benennbar zu machen. Das integrierende Philosophieren muss vor allem die Arbeit mit dem Interferenzbild der Disziplinen sein.

Davon würde nicht nur der soziale kognitiv-epistemisch-mediale Raum profitieren, sondern auch die Philosophie selbst. Es ist verblüffend, beunruhigend und, könnte man sogar sagen: verantwortungslos, dass die einzige Disziplin, die den integrierenden Impetus von jeher in ihrem angestammten Methoden-Repertoire hat, vor dieser Herausforderung immer noch weitgehend die Augen verschliesst. Eric Schliesser schreibt, es gebe „in den philosophischen Fakultäten derzeit keine Stellen für angehende synthetische Philosophen.“ Die Logik-Spezialistin Catarina Dutilh Novaes, die Schliessers Artikel kürzlich in einem Blogpost auf Daily Nous aufgriff und einen Teil ihrer eigenen Arbeit im „synthetischen“ Sektor verortet, sieht die Lage immerhin etwas positiver: Über die vergangenen 10 Jahre sei die Akzeptanz für derartige philosophische Projekte gestiegen.​**​

Und in der Tat – was meine eigenen „integrierenden“ Philosophie-Projekte aus den 1990er Jahren angeht, insbesondere das zur symbiogenetischen Evolutionsbiologie, so wären heute unter Umständen sogar akademische Realisierungsmöglichkeiten zu finden.​††​ Damals war es völlig aussichtslos. Zumal schlichtweg die Möglichkeit zur passenden Ausbildung fehlte – entsprechende Kenntnisse der Fachwissenschaften konnte man nur in Eigenregie erlangen7. Wie oft habe ich gedacht: Im Philosophiestudium sollte man vor allem andere Wissenschaften studieren, viel weniger Philosophie. Und ich denke es noch heute.

An dieser Stelle könnte man – und sollte es eigentlich auch – noch mindestens über eine andere Schwachstelle der heutigen akademischen Philosophie reden, ich hatte sie oben schon angedeutet: über ihre Ignoranz gegenüber dem inventiven Philosophieren oder der philosophischen Erfindung, ihre unverständliche Geringschätzung der Originalität. Warum feiern wir nicht Werke, die sich auf die Suche nach neuen Denkfiguren, neuen Gattungen, neuen Begrifflichkeiten machen, die die Konventionen des Faches gerade nicht reproduzieren, sondern sie aufbrechen? Warum klebt der typische philosophische Text so sehr an seinen Konventionen, seien es nun die szientistisch-analytischen oder die vagierend-prozessualen der kontinentalen Traditionen? Der Wiener Philosoph Christoph Paret sieht die Wissenschaftpolitik in der Schuld. Die Universität, schreibt er, zwinge ihre Angehörigen „existentielle Risiken einzugehen, während sie verhindert, daß sie intellektuelle Risiken eingehen“​‡‡​, und konstatiert: „Die Universitäten haben aufgehört, Neuem einen gastlichen Empfang zu bereiten. Wir machen uns keine Vorstellung davon, was uns entgeht.“​§§​

Ich stimme ihm zu, zu einhundert Prozent. Ich glaube dazu aber auch, dass diese berechtigten wissenschaftspolitischen Klagen auf ein tiefes Problem im epistemischen Selbstverständnis der modernen Philosophie hinführen. Es lässt sich am besten als Frage formulieren: Tut es der Philosophie überhaupt gut, und ist es ihren Methoden und Möglichkeiten überhaupt angemessen, wenn sie sich dem Ideal von wissenschaftlicher Wahrheit unterwirft, das, wie auch immer es dann ausbuchstabiert werden mag, sich als allgemeingültiger akademischer Goldstandard etabliert hat? Hat die Philosophie nicht viel mehr auch etwas von einer Kunst, sollte sie mehr von einer Kunst haben?

Der Komponist und Musiktheoretiker Dmitri Tymoczko sagt: „Philosophie ist keine Wissenschaft, und wir bewerten Philosophen nicht einfach nach dem Kriterium Wahrheit. Wir schätzen Philosophen, weil sie Visionen von der Welt und dem Platz der Menschheit in ihr entwickeln, über die nachzudenken sich lohnt.“​¶¶​ Obwohl oder vielleicht gerade weil Tymoczko selbst kein professioneller Philosoph ist, spricht er etwas aus, worüber es sich für die heutige Philosophie durchaus auch nachzudenken lohnen würde.

3. Über Russland und über Philosophie
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Es war damals eine traurige Lage. Die Universität umstanden von geistigen Mauern aus Ideologie und Eitelkeit, kein Raum fürs Zusammendenken des bestehenden intellektuellen Materials und erst recht keiner fürs riskante Ausdenken von neuem. In fünf Jahren Studium an vier verschiedenen Fakultäten hatte die akademische Philosophie sich nicht gerade als Traumdisziplin präsentiert.​##​ Der letzte Anstoss zum Abschied von der Universität kam dann allerdings aus den Kapriolen der Weltgeschichte, nämlich dem Zerfall der Sowjetunion.

Bei dem war ich schon einige Jahre früher zufällig Zaungast gewesen: Im Sommer 1991 war ich aus Berlin losgetrampt nach Polen – terra incognita für uns West-Jugendliche. Als der Augustputsch gegen Gorbatschow geschah, war ich gerade in Suwałki, eigentlich auf dem Weg nach Gdańsk, aber eine Zufallsbekanntschaft erzählte mir, es gebe keine Kontrollen mehr bei der Einreise in die baltischen Republiken: der eiserne Vorhang sei gefallen.

Das musste ich mir anschauen. Ich fuhr mit zwei polnischen Studenten in einem Lada, der, einmal angeschoben, mangels Anlasser nicht mehr ausgehen durfte, zur Grenze. Dort versuchte ich, die sowjetischen Soldaten zu überzeugen, mich durchzulassen, legte ihnen sogar ein paar Dollar-Noten in meinen Pass – was sie sympathisch fanden, aber es blieb nutzlos. Einem deutschen Fernsehteam, das der gleichen Fehlinformation aufgesessen war, ging es ebenso. Die Grenze blieb noch bis zum Dezember zu.

Als es dann später mit der Universität nicht weiterging und die akademische Philosophie so wenig Hoffnung nährte, ergab sich eine Gelegenheit, das Verpasste nachzuholen​***​: Freunde aus Fribourg, Slawistik-Studenten, die ein Gastsemester in Moskau absolvierten, luden mich zu einem russischen Sommerurlaub ein.

Moskau, diese mir völlig unverständliche Stadt in diesem mir völlig unverständlichen Land mit dieser mir nicht weniger unverständlichen Sprache, schlug mich so in seinem Bann, dass ich dort blieb. Erst als Sprachlehrer, dann als Buchhändler und Journalist, für zehn, wenn man die spätere Zeit des Pendelns mitzählt, sogar 15 Jahre.

Die Philosophie, sagte ich mir halb jugendlich-sorglos, halb jugendlich-verzweifelt, würde ich eben auf eigene Faust weiterbetreiben. Nachdenken kann man schliesslich überall – warum nicht in auch Russland?

Die Bibliotheks-Sitzerei nahm ich nach ein paar Jahren wieder auf, nicht in der berühmten Lenin-Bibliothek, sondern in der für Ausländische Literaturen – was ich benötigte, war eher auf Englisch oder Französisch geschrieben als auf Russisch.

Und dann kam die digitale Revolution. Innerhalb weniger Jahre war alles, was der Geist zum Denken braucht, online verfügbar, always at your fingertips. Die Klassiker sowieso, aber auch die neuesten Papers aus Biologie, Neuroscience, Linguistik und, was mich mehr und mehr zu interessieren begann, Politikwissenschaften und politischer Philosophie.

Über die letzten 20 Jahre habe ich so sicherlich nicht weniger gelesen, als wenn ich in der Universität geblieben wäre – eher sogar mehr, und sicherlich mit grösserer thematischer Bandbreite.

Dennoch empfinde ich die Bilanz meines Universitäts-Ausstiegs als gemischt. Lektüre ist nicht alles, was zählt – auch das kollegiale Umfeld ist wichtig, damit das eigene Denken herausgefordert wird und andere herausfordern kann. Wer aussen vor steht, zahlt den Preis von Isolation und Einsamkeit. Andererseits ist die „Ausserhalbbefindlichkeit“ auch etwas, das neue Freiheiten und damit spezifische Chancen eröffnet. Und zwar, scheint mir, nicht nur für die Ausserhalbbefindlichen selbst, sondern möglicherweise auch für die denkende Gemeinschaft.

Und hier stellt sie sich wieder: Die Frage nach der Relevanz der Philosophie für die heutige Gesellschaft und für die aktuelle Geisteswelt. Um die ist es wohl wirklich nicht zum Besten bestellt. Die wirkungsvollsten Denkanstösse kommen derzeit eher von Soziologen, von Politologen, von Biologen, von Historikern; von Psychologen oder Kulturologen; von Juristen oder Linguisten, von Neurologen, Kosmologen, von Informatikern – und so gut wie nie von Philosophen. Ist die Philosophie im intellektuellen Abseits gelandet? Ist die Fackel im Staffellauf der Erkenntnis endgültig an die Wissenschaften übergegangen, und die Philosophie kauert nun ausgelaugt am Wegesrand?

Was eine solche pessimistische Sichtweise aus dem Blick verliert, ist, scheint mir, die Frage der Foren, in denen eine intellektuelle Tätigkeit stattfindet. Foren, Denkräume, sind nicht neutral oder inert. Sie setzen formatierende Bedingungen für den Inhalt, der in ihnen produziert, kommuniziert und rezipiert wird: Neue Foren machen neues Denken möglich. Und das Entstehen neuer Foren zeichnet sich – wiederum im Zuge der digitalen Revolution, nun in ihrem zweiten, partizipativen Schritt – derzeit überall ab.

Philosophie mag auf die akademischen Disziplinen angewiesen sein – sie muss aber nicht zwangsläufig selbst als eine solche agieren. Mehr und mehr eröffnen sich Räume neben der Universität – para-akademische Räume, in denen Akteure tätig sind und miteinander umgehen, die zwar akademische Kompetenzen besitzen, aber einen ausserakademischen Diskurs pflegen.

Dies ist, zumindest der Perspektive nach, mehr als blosse Popularisierung des Akademischen, mehr als blosse public philosophy: Ähnlich wie die „synthetischen“ oder „integrierenden“ Philosophen etwas Neues schaffen, wenn sie einzelwissenschaftliche Ergebnisse in neue Reflexionszusammenhänge stellen, bringen auch die paraakademischen Akteure etwas Neues hervor, indem sie neue Konzepte und eine neue Sprache erfinden, in denen sie in den neuen digitalen Räumen miteinander reden können.

Der Frage der Relevanz der Philosophie nimmt dann eine neue Form an. Sie präsentiert sich nicht mehr ausschliesslich als eine intellektuelle, sondern mindestens ebenso als eine institutionelle und eine mediale. In beiden Bereichen ist der paraakademische Sektor in lebhafter Entwicklung: Mehr und mehr entstehen Institute, in denen akademische und nichtakademische Akteure gemeinsam an aktuellen Problematiken arbeiten und die unmittelbare Traktion auf Praxis und Öffentlichkeit suchen.​†††​ Und in medialer Hinsicht sind die Möglichkeiten für neue Infrastrukturen, die die Stärken von Twitter und Co. aufnehmen und weiterentwickeln, aber ihre Mängel im Bereich der sozialen Epistemologie abstellen, sowieso noch lange nicht ausgelotet.

Können derartige Entwicklungen zu einer neuen Relevanz der Philosophie beitragen? Oder doch, selbst wenn in diesen neuen Denkräumen etwas anderes entstehen sollte als Philosophie, dazu, dass sich ein digital gestütztes, frei und innovativ agierendes Denken entfaltet und Menschen und Disziplinen lernen, auf eine bessere Weise als bisher miteinander zu reden, und über Themen zu reden, von denen sie sich bisher noch keine Vorstellung machen?

Man wird sehen, wohin die derzeitigen Veränderungen führen. Die paraakademische Philosophie ist jedenfalls kein Abstellgleis, auf das die Züge abgeschoben werden, für die im grossen Bahnhof der Akademia kein Platz ist. Es ist ein eigener Modus des Denkens, ein Produktions- und Teilhabe-Modus sui generis. Ich für mein Teil bin überzeugt: Er ist fruchtbar, und er hat Zukunft.8

4. „Footnotes“
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Dass ein Text eine lineare Angelegenheit wäre, daran glaubt heute sowieso keiner mehr, insofern will ich auch nicht so tun als ob. Dendriten, Anastomosen und andere Kreuz- und Querwüchse sind keine Marginalien, sondern part of the story:

1. Zu Wilhelm His und Ernst Haeckel: Damit hier keine Missverständnisse entstehen – Wilhelm His lehnte nicht die Abstammungslehre ab, er war kein Kreationist. Allerdings hielt er den von Darwin postulierten Prozess der Modifikation (heute: Mutation) und Selektion als Triebkraft hinter der Evolution für spekulativ und nicht beweisbar und in Bezug auf sein eigenes Fach, die Entwicklungsbiologie, für irrelevant. His betrachtete – wie später auch Blechschmidt – die Entwicklung des Embryos daher auch aus einer rein ontogenetischen Perspektive. Er untersuchte die Kinese der Gewebeentwicklung und stellte die geometrischen Verhältnisse und die mechanischen Kräfte in den Mittelpunkt – ein Programm, wie es sich ähnlich auch bei D’Arcy Thompson (1860-1948) finden lässt (On Growth and Form). Wilhelm His wurde damit zu einem der Begründer der modernen Entwicklungsbiologie.  

Die Forschungsparadigmata von Haeckel einerseits und His andererseits waren damit von vornherein unvereinbar miteinander, jedenfalls zum historischen Zeitpunkt Ende des 19. Jahrhunderts. Sie wurden erst durch die einsetzende Entwicklungsgenetik bei Richard Goldschmidt (1878–1958) und ab ca. den 1980er Jahren durch das Forschungsprogramm der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) miteinander verbunden. Der Streit zwischen Haeckel und His erscheint aus heutiger Sicht vor allem als einer um eine historische biologische Aporie, auf keinen Fall als einer der „echten Wissenschaft“ (auf welcher Seite auch immer man sie konkret würde lokalisieren wollen) gegen eine pseudowissenschaftliche „Scharlatanerie“.

2. Auch Blechschmidt kann, ebenso wie His, nicht im Rahmen zweier Sätze wissenschaftsgeschichtlich eingeordnet werden. Er vertrat einerseits, was die Rolle der Genetik in der Embryonalentwicklung betrifft, Ansichten, die ins Esoterische und Kreationistische hinüberspielen und die aus Sicht heutiger Entwicklungsbiologie nicht mehr haltbar sind. Andererseits war er ein massgeblicher Erforscher der menschlichen embryonalen Anatomie, entwickelte eigene Techniken der Präparation und Präsentation und begründete die noch heute existierende „Humanembryologische Dokumentationssammlung“ an der Universität Göttingen (ein Verdacht auf Herkunft mancher Objekte aus nationalsozialistischen Institutionen wurde wohl inzwischen entkräftet). Blechschmidts Leben und Wirken und die Geschichte seiner Sammlung wurden ausgiebig von Florian G. Mildenberger sowie von Michael Markert untersucht, wobei der erste zu einer eher negativen, der zweite zu einer neutralen bis positiven Einschätzung gelangte.​‡‡‡​

Was die Problematik der Abtreibung betrifft, schreibt Mildenberger über Blechschmidt: „Seine „Mensch-von-Anfang-an“-Lehre avancierte so seit Mitte der 1970er Jahre zum „Credo aller Lebensschützer“ in evangelisch- evangelikalen und konservativ-katholischen Organisationen. […] Zusätzlich betätigte er sich in der „Juristen-Vereinigung Lebensrecht e. V.“ und beim „Weißen Kreuz“.“

3. Eine Bemerkung zum Katholizismus. Obwohl selbst Atheist, hatte ich ihn an der Fribourger Universität sehr schätzen gelernt, zum einen durch die exzellenten Seminare zur mittelalterlichen Philosophie bei Ruedi Imbach, zum anderen durch eigene Lektüren, v.a. von Paul Ricœur und Gabriel Marcel. Auch die Hauptquellen zum Personbegriff, mit denen ich bei meiner Untersuchung arbeiten wollte, stammten aus der katholischen philosophisch-theologischen Tradition. Der Dämpfer durch die Embyronen-Episode hat daran langfristig auch nichts geändert.

4. „Nicht Eines, aber auch nicht Viele, sondern gewissermassen Viel-Einse, Fusions-Organismen“: Hier stellen sich gleich zwei interessante – und potenziell konsequenzenreiche – terminologische Fragen. Der Begriff „Organismus“ suggeriert eine „Eins-heit“, die sich mit den neueren Befunden zu horizontalen Prozessen wie Gentaustausch, viraler Gentransfer und eben Symbiogenese kaum noch vereinbaren lässt. Von „Kolonien“ zu sprechen würde hingegen den Fokus in irreführender Weise auf die Vielheit verschieben und zudem die entwicklungsbiologische Tatsache vernachlässigen, dass Lebewesen ontogenetisch jeweils aus befruchteten Keimzellen neu entstehen (mit Ausnahme der Fortpflanzungen durch Zellteilung bei Einzellern und echten Kolonien). Ein Begriff, der hier die richtige Balance wahrt, wäre der des Fusioms, der sich leicht in Anlehnung an die gängigen Begriffe Genom, Proteom, Transkriptom usw. bilden lässt. Ein Fusiom ist dann ein Fusions-Organismus bzw. ein Organismus, der zumindest partiell durch (genetische und/oder zelluläre) Fusionen zustande gekommen ist – was auf so gut wie alle Organismen zutreffen dürfte. Folgt man dazu noch den Annahmen der Prozessontologie, wie sie in Bezug auf die Biologie etwa von John Dupré oder Daniel J. Nicholson vertreten werden​§§§​ (und die sich für die Modellierung horizontaler und fusionierender Evolutionsprozesse hervorragend eignen), dann gibt es einen weiteren Grund, vom Organismusbegriff abzurücken, suggeriert dieser doch eher eine dinghafte Statik des Gemeinten, einen biologischen „Chosismus“. In der Biologie ist aber eben nichts statisch, sondern alles Prozess: wimmelnde, unvorstellbar fein koordinierte molekulare Aktivität, unablässig sich selbst erhaltende pulsierende Lebendigkeit. Das lässt sich durch ein aktiv-Partizip viel besser ausdrücken als durch ein Substantiv. Ein vielversprechender Kandidat wäre hier das Partizip Vivanz, das sich für jedes Lebendige, von der Bakterienzelle bis zum Säugetier-Organismus (bzw. Säugetier-Fusiom) ohne Unterschied und gewissermassen „massstabslos“ verwenden lässt. Ich habe mit diesem Begriff einmal an unauffälliger Stelle in einem Essay für die Berliner Zeitung experimentiert (und sehr positive Rückmeldung dafür bekommen) und plane, ihn in Zukunft weiter zu entwickeln.
Mit beiden Neologismen gemeinsam kann man einen Satz bilden wie: Alle Fusiome sind Vivanzen – ihn im Sinne einer biologischen Hermeneutik auszuloten, verspricht einiges an zeitgemässen Konzeptionalisierungsmöglichkeiten für das Lebendige im Allgemeinen und die Evolution im Besonderen.

5. „Die Befunde von Margulis und ihren Kollegen waren damals noch sehr umstritten.“ – Das hat sich seitdem doch grundlegend geändert. Insbesondere Margulis‘ eigene Hypothese, dass die Mitochondrien und Plastiden der eukaryotischen Zelle ehemals eigenständige Bakterien waren, die eine dauerhafte Symbiose mit ihrer Wirtszelle eingegangen sind, unter teilweiser genetische Verschmelzung der beiden Partner, gehört inzwischen zum Schulbuchwissen. Im Zusammenhang dieses Textes hier lohnt es zu erwähnen, dass Margulis (1938–2011) mehrere russische Vorläufer hatte, an deren Arbeiten sie teils auch explizit anknüpfte: Andrej Faminzyn (1835–1918), Konstantin Mereshkowski (1855–1912) und Boris Koso-Poljanski (1890–1957). Auch andere Beiträge aus der sehr bunten Mischung des Tagungsbands haben zu weiteren erfolgreichen Forschungsprogrammen Anlass gegeben (etwa die Hypothese über die bakteriellen Endosymbionten von Amöben, die Kwang W. Jeon formulierte), wieder andere harren immer noch der abschliessenden Überprüfung. Derzeit werden manche dieser Themen von den Biologen und Theoretikern bearbeitet, die sich der der Gruppe des „Third Way of Evolution“ zusammengeschlossen haben und eine neue Synthese der verschiedenen Elemente der jüngsten Evolutionstheorie anstreben (www.thethirdwayofevolution.com).

6.Einige Vorbehalte gegenüber den Konnotationen von Synthese: Schliesser lässt sich bei diesem Begriff von Herbert Spencer inspirieren, wandelt seine Bedeutung allerdings so ab, dass er nicht mehr, wie bei Spencer, mit der Vision einer Universalwissenschaft oder eines vereinheitlichten Wissenssystems verbunden ist. Dennoch bleibt, jedenfalls nach meinem Empfinden, im Wort „Synthese“ ein Bedeutungselement erhalten, das über das ergebnisoffene „Zusammendenken“ hinausgeht und das Suchen nach einem gemeinsamen Nenner oder einem zusammenfassenden Fazit nahelegt. Persönlich ziehe ich daher das Adjektiv „integrativ“ vor – ein integratives Philosophieren kann auch das Nicht-Synthetisierbare thematisieren und konzeptionalisieren. Freilich kann man einwenden, dass auch „integrieren“ das Disparate und Konträre nicht als solches stehen lässt, allein dadurch, dass es versucht, es in ein gemeinsames Framework einzubeziehen. Der Unterschied zwischen beiden Adjektiven ist letztlich ein gradueller. Wichtig ist, sich darüber im Klaren zu sein, dass es nicht um eine Summenbildung der Einzelwissenschaften geht, bei der kein Rest bleiben darf und keine Widersprüche stehen bleiben dürfen. (Ein weiterer Grund, den man gegen „synthetisch“ anführen könnte, ist die Verwendung dieses Worts in der biologischen Theoriebildung selbst, nämlich in den verschiedenen Varianten von „synthetischer Evolutionsbiologie“.)

7. „entsprechende Kenntnisse der Fachwissenschaften konnte man nur in Eigenregie erlangen“ – Aus einem Interview mit der Philosophin Maria-Sibylla Lotter: „Welchen Rat hätten Sie gern zu Beginn Ihrer Laufbahn erhalten?“ – „Nur das zu machen, was mich wirklich interessiert. Vielleicht hätte ich dann nicht so lange an Minderwertigkeitskomplexen gelitten, wenn ich mich nicht überwinden konnte zu lesen, was man unbedingt gelesen haben musste, sondern andere Texte, die mich irgendwie anzogen. Erst seit sehr kurzer Zeit dämmert mir, dass das nicht nur eine Schwäche, sondern auch eine Stärke sein könnte.“​¶¶¶​

8. Na, und um wenigstens in einer Fussnote noch einmal auf den Doktor beziehungsweise dessen Abwesenheit zurückzukommen: Ja, ausserhalb der Institutionen ein freies, dabei aber auf seine Weise auch professionelles Denken praktizieren zu können, ist eine grosse Chance. Andererseits stelle ich mir häufig die Frage: Darf ich mich überhaupt „Philosoph“ nennen? Und will ich es denn überhaupt? – Mein Universitätsabschluss, das habe ich irgendwann einmal nachgesehen, berechtigt mich zum Führen dieser Berufsbezeichnung: staatlich geprüftes Denkpersonal, sozusagen. Aber wer ist in jenem ideellen Sinne, in dem wir das Wort zumeist gebrauchen, Philosoph? Der, der von anderen als ein solcher benannt wird, im Sinne eines Ehrentitels? Der, der in akademischen Fachjournalen publiziert (dann könnte es aber gar keine paraakademische Philosophie geben)? Oder der, der sich selbst zum Philosophen deklariert, nach dem Vorbild eines Beuys’schen Künstlers?

Irgendwelche Belege fürs aktive Philosophieren müssen doch zumindest vorzeigbar sein, sonst könnte da ja jeder kommen. Und in Hinsicht auf diese Belege sieht es bei mir tatsächlich mau aus. Obwohl ich (niemand muss mir das glauben) den grössten Teil meiner Zeit mit aktivem philosophischen Denken zubringen, mit entsprechenden Lektüren und – wie sagt man es am besten? – Schreibtätigkeiten. Sie schlagen sich aber kaum in Veröffentlichtem nieder – ausser gelegentlich in Social Media-Posts oder journalistischen Beiträgen. Was nun wieder – ausser mit meinen eigenen intellektuellen und textkompositorischen Grenzen – damit zu tun hat, dass es die paraakademischen Foren, die entsprechende nicht-akademische, aber auch nicht-journalistische Denkbeiträge akzeptieren würden, bisher nur in sehr begrenztem Masse gibt. Es ist also durchaus ein Ovoavialproblem (vulgo dasjenige der Henne und des Eis).

Bis sich dieses löst – vielleicht durch eine dritte, intellektuelle, digitale Revolution? – bemühe ich mich, auf einem dünnen Mittelweg zu wandern. Ich bringe Philosophisches dort unter, wo es geht, nenne mich einen Philosophen, wo es halbwegs passt und präfigiere das möglichst mit „paraakademischer“, und setze ansonsten auf die aus biologisch-biographischen Gründen leider immer knapper werdende Zukunft. Ich habe schon noch das eine oder andere in petto, das darauf wartet, aus ihr, also der Brust, herauszuflattern, sobald das Fenster der Gelegenheit irgendwo offensteht. Und dann fühle ich mich mit meiner intellektuellen Haltung ja auch in guter, weil lang zurückreichender, philosophischer Gesellschaft. Ich kann mir einen Philosophen einfach partout nicht als Spezialisten vorstellen, und kann für solche auch kaum historische Beispiele finden. Also bleibe ich dabei, auch selbst kein Spezialist zu sein. Ich sehe mich schon eher als klassischen Generalisten, für den nicht Fächergrenzen, sondern Grenzen der eigenen Kompetenz ausschlaggebend sind. Die immer zu erkennen, und nicht zu überschreiten, bevor man sie gewissenhaft erweitert hat, das ist eine der grössten Herausforderungen, wenn man derart freischwebend philosophisch unterwegs ist.



  1. ​*​
    Lynn Margulis, René Fester (eds.) Symbiosis as a Source of Evolutionary Innovation: Speciation and Morphogenesis. MIT Press, 1991
  2. ​†​
    Neodarwinistische und symbiogenetische Evolutionstheorie : philosophische und wissenschaftliche Analyse einer aktuellen Kontroverse in der Evolutionsbiologie, Martin Krohs, Fribourg 1994: https://www.fr.ch/de/kub/app/master_cat/991015226729705509
  3. ​‡​
    Eric Schliesser, Synthetic Philosophy, Biology & Philosophy volume 34, Article number: 19 (2019). https://link.springer.com/article/10.1007/s10539-019-9673-3
  4. ​§​
    Daniel C. Dennett, From Bacteria to Bach and Back: The Evolution of Minds, New York 2017
  5. ​¶​
    Peter Godfrey-Smith, Other Minds: The Octopus, the Sea, and the Deep Origins of Consciousness, New York 2016
  6. ​#​
    Rachel Carson, Silent Spring, Boston 1962
  7. ​**​
    „ I speak from (anecdotal) personal experience: when I was working on the project that culminated in my monograph Formal Languages in Logic (2012), I often got remarks to the effect that it was all very interesting, but what I was doing wasn’t really philosophy. (My standard response was: well, I’m glad no one is saying that it’s all very philosophical, but not interesting.)” Catarina Dutilh Novaes, https://dailynous.com/2023/05/30/a-plea-for-synthetic-philosophy-guest-post/
  8. ​††​
    Die Philosophin und Biologie-Theoretikerin Nathalie Gontier arbeitet erfolgreich in diesem Bereich, siehe etwa: Nathalie Gontier (ed.), Reticulate Evolution: Symbiogenesis, Lateral Gene Transfer, Hybridization and Infectious Heredity, Springer International Publishing Switzerland 2015, https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-319-16345-1
  9. ​‡‡​
    Christoph Paret, Schiffbruch ohne Zuschauer: Warum die Universität nicht mehr der Ort gefährlicher Gedanken ist, Lettre International 130, Herbst 2020, S. 29-32., 2020. Online: https://www.academia.edu/44202940/Schiffbruch_ohne_Zuschauer_Warum_die_Universit%C3%A4t_nicht_mehr_der_Ort_gef%C3%A4hrlicher_Gedanken_ist
  10. ​§§​
    Christoph Paret, Warum wir anders denken müssen […], Die Furche 8 (25.2.2021) https://www.furche.at/gesellschaft/wissenschaftsfreiheit-warum-wir-anders-denken-muessen-4799885
  11. ​¶¶​
    „Instead, we value philosophers because they are interesting thinkers: because they develop compelling visions of the world, or of humanity’s place in it, and because their arguments, though sometimes wrong, are tempting, or instructive, or otherwise rewarding to think about.“ https://www.bostonreview.net/articles/dmitri-tymoczko-sound-philosophy/
  12. ​##​
    Eine Ausnahme möchte ich hier aber wenigstens in einer Fussnote explizit erwähnen: Ernst Tugendhat. In Tugendhats Veranstaltungen wurde nachgedacht – genau, anspruchsvoll und mutig. Und immer auch von ihm selbst. Die Seminar-Sitzungen über Wittgensteins Blaues Buch, über die Frage, „was die Bedeutung eines Wortes ist“, oder ob „ich“ zu sagen nicht eher dem Heben der Hand, dem Sich-Melden gleicht als einem Aussagen oder Bezeichnen, waren neunzig Minuten reiner Konzentration. Die Fragen, die er damals aussäte, arbeiten seitdem in mir weiter, und sicher in zahllosen anderen Besuchern seiner Veranstaltungen auch.
  13. ​***​
    Zwischenzeitlich war ich bereits einmal touristisch in Sankt Petersburg gewesen, ausserdem hatten wir im Volkswirtschaft-Hauptseminar bei Guy Kirsch versucht, die Perestrojka, den Putsch gegen Gorbatschow und den Zerfall der Sowjetunion mit den Mitteln der Neuen Politischen Ökonomie (Public Choice Theory) zu modellieren. Die Russland-Thematik schwang also latent schon seit einiger Zeit mit, was mir die dann folgende Entscheidung sicher vereinfachte.
  14. ​†††​
    Ein Beispiel wäre das „The New Institute“ in Hamburg (https://thenew.institute/), aber auch viele andere „Institutes for advanced studies“.
  15. ​‡‡‡​
    Siehe etwa: Florian G. Mildenberger, Anatom, Abtreibungsgegner, Antidarwinist: Die drei Leben des Erich Blechschmidt (1904–1992). In: Medizinhistorisches Journal Band 51, Heft 3 (2016), S. 246–279; Michael Markert, Die „Humanembryologische Dokumentationssammlung Bllechschmidt“ – Geschichte einer sensiblen Sammlung, 1939-1973, Forschungsbericht der Georg-August-Universität Göttingen, 2019.
  16. ​§§§​
    Zur Prozessontologie in der Biologie siehe etwa John Dupré, Processes of Life: Essays in the Philosophy of Biology, Oxford 2012 oder Daniel J. Nicholson, John Dupre ́(eds) Everything Flows: Towards a Processual Philosophy of Biology, Oxford 2018
  17. ​¶¶¶​
    https://www.philpublica.de/Interviews/a7ff08cf-e58f-418e-97c4-cf3e89713490