Warum Philosophen weniger forschen sollten – und mehr erfinden. Erschienen im Philosophie Magazin (2023)
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„In meiner philosophischen Forschung untersuche ich …“ – diese Worte liest man regelmäßig auf den Mitarbeiterseiten philosophischer Institute. Wie schade.
Denn wie will man durch Forschung zur Erfrischung der Philosophie beitragen? Wie konnte die Philosophie überhaupt auf die Idee verfallen, Forschung sei ihre Kernaufgabe? – Nun gut, vielleicht muss jede Disziplin, die in unserer akademischen Bürokratie überleben will, sich das Schildlein Forschungswissenschaft um den Hals hängen. Aber im Fall der Philosophie ist das ein Selbstbetrug. Philosophie forscht nicht, sie erfindet. Das allerdings tut sie nicht nach eigenem Gutdünken, sondern gebunden an Wahrheit und Wissen. Sie erfindet also etwas, das den Anspruch erhebt, wahr zu sein: Die Philosophie generiert erfundene Erkenntnis.
Erfundene Erkenntnis – dieser Selbstwiderspruch ist konstitutiv für die Philosophie, und sie sollte ihn sich selbstbewusst auf die Fahnen schreiben. Denn wenn sie ihr Erfindertum schamvoll ausblendet, wenn sie blind der Wissenschaft nacheifert und sich ihr so willig andient wie ihrer vorigen Dienstherrin, der Theologie, dann bringt sie sich um ihr wertvollstes Kapital: um die Kraft zum Entwurf.
Entwurf: Das wäre ein Kurzbegriff, in dem der Selbstwiderspruch enthalten und aufgehoben ist. Denn wenn man entwirft, dann steht man fest auf dem Boden der Tatsachen. Und erfindet dennoch etwas Neues – aber etwas, das nahtlos zu den Fakten passt. Auf diese Weise liefert Platon einen Entwurf der Idee, Michel Foucault einen Entwurf der Macht, der Liberalismus Entwürfe der Freiheit, die Logik Entwürfe des rationalen Denkens. Das wird dann heute meist „Theorien“ genannt, in der Hoffnung, damit ein paar Krumen Wissenschafts-Reputation abzustauben. Wie sowieso ja Philosophen gern verschleiern, was sie eigentlich tun.
Kants Meisterwerk – ein Täuschungsmanöver?
Zum Beispiel Immanuel Kant. Erinnern wir uns an die transzendentalen Ideen aus der Kritik der reinen Vernunft: Seele, Welt, Gott. Kant bezeichnet sie als „reine Vernunftbegriffe“, die den Verstand „regulativ“ jeweils „zu einem gewissen Ziele richten“. Entsprechend stammen sie nicht aus der Erfahrung, sondern entstehen abstrakt-automatisch aus dem logischen Denken selbst, und zwar jeweils ein Begriff aus jeweils einem Syllogismus-Typ: Der kategorische (in Kants Terminologie) Vernunftschluss muss den Begriff Seele „notwendigerweise nach sich ziehen“, der hypothetische den Begriff Welt und der disjunktive den Begriff Gott.
So stellt Kant es jedenfalls dar. Die Zuordnung der drei Begriffe zu den drei Vernunftschlüssen könnte aber auch eine ganz andere sein – und wäre es auch fast geworden. Denn gegenüber den älteren Vorlesungen über Metaphysik hat Kant die Begriffe Gott und Welt in der Kritik der reinen Vernunft kurzerhand die Plätze tauschen lassen – offenbar, weil das für die Gesamtarchitektur seines Systems stimmiger war. Das angeblich so „notwendige“ Herfließen jedes Vernunftbegriffes aus seinem Syllogismus ist also in Wirklichkeit eine willentliche Setzung des Autors. Kants Kernargument für den formidablen Rang der transzendentalen Ideen entpuppt sich als gewiefte Hütchenspielerei.
Beruht Kants Meisterwerk also auf einem Täuschungsmanöver? Ist die Kritik, bei Licht betrachtet, nur eine philosophische Fiktion? Ist vielleicht überhaupt alle Philosophie nicht nur keine Wissenschaft, sondern geradezu das Gegenteil davon – ist sie, wie der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges, der Wegbereiter des magischen Realismus, suggeriert, nichts anderes als „ein Zweig der phantastischen Literatur“?
Tlön: Aus Fabrikation wird Wirklichkeit
Man kann das so sehen. Es würde aber Kant in keiner Weise schaden. Denn philosophische Fiktionen können eine derartige intellektuelle Präsenz entwickeln, dass sie über kurz oder lang als reale Instanz zum konstitutiven Teil der Wirklichkeit werden.
Ein dichterisches Gleichnis für solch eine Wirklichkeits-Transmutation findet sich in Borges’ Erzählung Tlön, Uqbar, Orbis Tertius. Dort phantasiert eine geheime Gelehrtengesellschaft über Jahrhunderte eine hochdetaillierte fiktive Welt herbei, die sich erst subtil in einige dickbändige Realenzyklopädien einschleicht und später dann zunehmend die echte, alltägliche Realität für sich kapert.
Als Leser erlebt man das unmittelbar mit: Borges schildert, wie er in einem abgewirtschafteten Gasthof zufällig dem tödlichen Zuckerrohrschnaps-Delirium eines Gastes beiwohnt. Beim Verstorbenen fand man einen blitzenden, „kleinen, gleichzeitig ungeheuer schweren“ Metallkegel, der, als Borges ihn mit Mühe aufhob, einen scharfgezogenen Kreis ins Fleisch schnitt und der möglicherweise auch eine Mitverantwortung für den Tod des jungen Mannes trug. „Diese kleinen überschweren Kegel“, heißt es im Text, „sind in gewissen Religionen von Tlön ein Abbild der Göttlichkeit.“
Tlön’sche Göttlichkeit hin oder her – der Kegel kam aus der Fiktion. Sein unerhörtes Gewicht, seine massive reale Durchschlagskraft – Kants fiktionensatter philosophischer Entwurf hatte sie auch. Der kategorische Imperativ, diese raffinierte Beförderung der Goldenen Weisheitsregel zum apodiktischen Vernunftgesetz, hat Politikprojekten von der Global-Justice-Bewegung bis zur wertegeleiteten Außenpolitik ihr Programm gegeben. Und die Distanz, die Kant zwischen das Ding an sich und seine Erkenntnis einzog – nicht zuletzt durch die fragwürdig hingebogenen transzendentalen Ideen – findet sich etwa in den heutigen Kognitionswissenschaften wieder.
Aber es geht ja auch nicht nur um Kant. Unzählige andere Fabrikationen unzähliger anderer Philosophinnen und Philosophen haben sich genauso ins geistige Erbgut unserer Kulturen eingespleißt. Welcher namenlose Denker hat vor Urzeiten das Adjektiv frei erfunden? Wer kam später auf die Idee, die Silbe „-heit“ daranzuhängen? Und welchen Rang hat heute in unseren Leben die Freiheit? – sie hat Verfassungsrang. Sie stiftet unsere Wirklichkeit nicht weniger mit als das Rad, die Zahl, das Internet oder eine beliebige andere Fundamentalerfindung der Menschheit.
Philosophen und Propheten
Der Wissenschaftsphilosoph und Politikwissenschaftler Eric Schliesser entwickelt in seinem Aufsatz Philosophic Prophecies den Gedanken, dass philosophische Konzepte Ähnlichkeiten mit selbsterfüllenden Prophezeiungen haben: „Philosophische Prophezeiungen konzipieren eine lediglich mögliche, sogar unwahrscheinliche Situation und rufen ein Verhalten hervor, das die ursprüngliche Konzeption wahr oder annähernd wahr werden lässt.“ Sind Philosophen also so etwas wie Propheten?
Dies bringt uns zur Frage der Forschung zurück. Denn natürlich: Niemand kann von Null, aus dem hohlen Bauch, einen gedanklichen Entwurf erschaffen, der das Zeug dazu hat, sich zu einer realen Weltinstanz zu mausern. Man muss dafür zuvor schon intensiv an der entsprechenden Sphäre gesogen haben, exorbitant viel gelesen, nachgedacht, versucht, verworfen, neu versucht haben.
Nur ist dieses „Saugen“ nicht das, was die Universität unter Forschung versteht. Es ist nicht methodisch, nicht reproduzierbar, oft noch nicht einmal ohne weiteres dokumentierbar, geschweige denn förderantragskonform planbar. Ein weniger hochtrabendes Wort trifft es viel besser: Recherche. Wer philosophieren will, muss zunächst recherchieren. In einzelnen Fachwissenschaften, in anderen Philosophien, in den Künsten, in der kulturellen und politischen Aktualität und nicht zuletzt, je nach Thematik, auch in der eigenen Erfahrung, im persönlichen Erleben.
Solche Recherche geht oft von vagen Intuitionen aus. Sie stellt sie auf den Prüfstand, reichert sie mit Kontext an und verleiht ihnen, wenn alles gut geht, eine klarere Kontur. In weiteren Spiralgängen aus Lektüre, Reflexion, Erfahrung finden sich diese Intuitionen dann möglicherweise zu einer tragfähigen Inspiration zusammen, die schließlich der eigentlichen Entwurfsarbeit Impuls und Richtung gibt.
Inspiration – dieser Begriff scheint in der modernen Philosophie fehl am Platz. Entkleidet man ihn aber seiner esoterisch-religiösen Konnotationen und bettet ihn in eine Psychologie des gedanklichen Entwerfens, macht er sich dort sehr organisch aus. Und dann erscheint die Philosophie in der Tat, in einem fast buchstäblichen Sinne, als ein Zweig der – modernen, vom Übernatürlichen befreiten – Prophetie. Zumal in die Prophetie, im Unterschied zur phantastischen Literatur, die Wahrheitsbindung bereits eingebaut ist.
Wenn diese Gedanken auf der richtigen Spur sind, dann muss man sich aber wirklich fragen: Was hat diese recherchierend-entwerfend-prophetische Disziplin an der Universität zu suchen?
Philosophie als „Wahrkunst“
Ich habe diesen Text mit einer Provokation begonnen: mit der Behauptung, dass ein Philosophieren, das sich als Forschung betrachtet, nichts zu Erfrischung der Philosophie beitragen kann.
Ja, das ist überzeichnet. Dass die Philosophie Erfrischung braucht, erscheint mir aber offensichtlich. Derzeit kommt diskurstreibendes Denken eher von Soziologen, Biologen, Historikern, Informatikern – so gut wie nie von Philosophen. Für die Müdigkeit der Philosophie gibt es zahlreiche Gründe: ihre Selbstbezogenheit, ihre technische Kleinteiligkeit, aber eben auch ihre Überzeugung, ein Wissenschaftsideal erfüllen zu müssen, das ihren Aktionsradius extrem beschränkt. Was Abhilfe schaffen könnte, wäre ein Gattungssprung hin zu einer Philosophie, die sich als eine wahrheitsgebundene Kunst begreift, als eine „Wahrkunst“ – wie auch immer deren Text- und Gedankenfiguren dann aussehen mögen. Aber für einen solchen Sprung muss man eben das Forschungsparadigma sehr entschieden hinter sich lassen.
Und konsequenterweise auch die Universität. Als institutioneller Rahmen läge dann derjenige der Kunstakademie näher, oder man müsste die beiden miteinander kreuzen. Möglicherweise können sich auch neue philosophische Communities im digitalen Raum zusammenfinden – das dann aber wohl derzeit nur außerhalb der Institutionen, oder neben ihnen, in einem paraakademischen Bereich.
Ein Schlussgedanke: Wenn Philosophie erfundene Erkenntnis ist, dann darf man erwarten, dass diese je nach Erfinder oder Erfinderin sehr unterschiedlich ausfällt, selbst wenn beide die gleichen Fakten und Wirklichkeiten anerkennen, bis hin zum diametralen Widerspruch zwischen den Entwürfen. Jedermann weiß, dass das in der Philosophie tatsächlich der Fall ist: Ihre Geschichte besteht aus ungelösten Kontroversen, das Patt zwischen den Kontrahenten ist der Normalfall.
Ähnlich sollte es dann auch bei anderen Disziplinen aussehen, die von Philosophischem durchsetzt sind oder gar selbst auf ihre Art und Weise Philosophie betreiben – etwa in der Psychologie, der Soziologie, der Politologie, der Ökonomie. Das bedeutet aber: Wenn ich mich darüber empöre, dass jemand eine andere, dabei nicht weniger sorgfältig entworfene und begründete Auffassung vertritt als ich und es auch noch wagt, Gültigkeit für sie zu beanspruchen, dann offenbare ich nur meine eigene Naivität. Und das ist peinlich. Ich sollte es bleiben lassen.
Ein geschärftes Bewusstsein für die Entwurfhaftigkeit in vielen unserer intellektuellen Bemühungen könnte also nicht nur der Philosophie auf die Sprünge helfen, sondern auch dem öffentlichen Diskurs und seiner Kultur.
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