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Krachen in den Covid-Nähten

Acht Gründe, weshalb uns gerade die Massnahmen-Debatte um die Ohren zu fliegen droht, und noch ein paar mehr.

Die Tacoma-Narrows-Brücke im Wind – Video

Es kann einem derzeit angst und bange werden bei einem Blick in Foren oder Kommentarspalten, Twitter oder facebook: Man sieht, was die Debatte „schliessen, öffnen oder balancieren“ angeht, fast nur noch Verachtung, Hass und Häme, Überheblichkeit, unverhohlene Feindseligkeit zwischen den teilnehmenden Parteien. Sicher, Einigkeit wäre in dieser Situation utopisch, aber dennoch ist das Zusammenleben ja nicht abgesagt. Was ist los? Was hat Deutschland um den Verstand, zumindest den gegenseitigen Respekt gebracht? Versuch einer Liste.

1. altbekannt inzwischen: das Verschwinden des Gegenübers. Auf twitter oder facebook setzt man sich nicht mit Menschen auseinander, sondern mit Artikulationen. Der User gleicht einem Drohnen-Operator, der auf dem Bildschirm seinen Feind bekämpft: Enthemmungsmechanismen. Einem Menschen aus Fleisch und Blut würde man niemals so begegnen wie einem Kommentar im Internet. Die Systemfunktionalität belohnt Respektlosigkeit.

2. verwandt, aber weniger oft diskutiert: das Öffentlichwerden des Privaten. Innerhalb von Konsensgruppen unterfüttern User ihren Standpunkt mit Faktenmaterial und feiern denjenigen Kollegen am lautesten, der am heftigsten dem Gegner eins auszuwischen verspricht. Nur anstatt wie früher hinter geschlossenen Türen finden die Mobilisierungs-Sessions heute öffentlich statt: Jeder kann mit am Stammtisch seiner Erzfeinde sitzen und wirft früher oder später sein Bierglas nach ihnen.

3. selten im Blick: ein aktionistisches Verständnis des Politischen ist Standard geworden. Auf Lockdown-Seite wird Politik als Mission verstanden: der Wahrheit muss zu ihren Recht verholfen, schlimmeres Unheil verhindert werden. Auf Antilockdown-Seite wird sie als Widerstand begriffen: dunkle, jedenfalls fehlgeleitete Mächte sind zu enttarnen und zu überwinden, um Freiheit und Selbstverantwortung wiederzugewinnen. Es gab eine andere, ältere Bedeutung von „politisch“, nämlich als fairer Wettstreit von alternativen, auch diametral divergierenden Programmen. Sie entfällt derzeit fast völlig. Wo das Forum war, nehmen nun Einsatztruppen den Hügel im Sturm – von allen Flanken zugleich.

4. ebenfalls kaum thematisiert: die Leere der Metaebene. Man kann sich nicht nur ein Bild machen von der Welt, sondern auch ein Bild vom Sich-ein-Bild-Machen (von eigenen wie vom fremden). Wem dabei nicht wenigstens einige Zweifel an den eigenen Überzeugungen, der Reinheit ihrer Motivationen, der Absolutheit ihrer faktengestützen Gewissheit kommen, der hat vermutlich die Nase nicht weit über Level 1 hinausgestreckt. Die Möglichkeit von Zweifeln an eigenen Überzeugungen aber legt nahe, dass auch einige der gegnerischen Überzeugungen möglicherweise nicht vollends abstrus und pervers sind. Selbst wenn man sie kategorisch ablehnt. Oder, allgemein ausgedrückt: Gedanken ohne ein minimales Bewusstsein ihrer eigenen Problematik sind wenig mehr als neuronale Programmierungen. Verwunderlich, dass nicht jeder den Drang verspürt, sie zu überwinden.

5. im Zusammenhang mit der Leere der Metaebene: das Überengagement der Medien. In kaum einem redaktionellen Medium, ob „mainstream“ oder „alternativ“, erscheinen Materialien mit dem Ziel, KEINE Linie zu vertreten. Es wird fast immer Haltung kommuniziert, egal ob explizit (Kommentar, Meinungsstück) oder implizit (Interview, Reportage: die Haltung steckt im medialisierten Gegenstand). Die journalistische Kunst, seine eigene Meinung im Interesse der Leser vorübergehend zu verstecken, sie zu maskieren, sich bewusst methodisch zu desengagieren, wird kaum je praktiziert. Dabei hängt von ihr die Kohärenz des medialen Ökosystems ab – andernfalls zerfällt es in isolierte Meinungsinseln, auf die man sich zwar retten kann, von denen man aber nicht mehr wegkommt. Medien dürfen die Nachfrage nach Meinung nicht nur befriedigen, sie müssen ihr auch entgegenarbeiten. Dabei im Rahmen des Plausiblen und Vernünftigen zu bleiben, gerade darin liegt journalistische Verantwortung.

6. als fundamentales Übel immer deutlicher: die Sakro-Banalisierung von Wissenschaft. Eine fatale Dialektik, die sich da derzeit abspielt: Wissenschaft wird einerseits sakralisiert, heilig gehalten als einzige Quelle verbindlicher Inhalte, sie wird aber zugleich auch banalisiert, indem sie als Munition im Meinungskampf missbraucht wird. Es fehlt ein Wissenschaftsverständnis, das die Verbindlichkeit der Faktizität mit der kontroversen Natur der Wissensproduktion vereint UND dabei handlich und allgemeinverständlich ist. Ohne ein solches Modell kann es keinen adäquaten und produktiven öffentlichen Umgang mit Wissenschaft geben, die Quittung bekommen wir entweder als Verabsolutierung oder als Relativierung der Wissenschaft. Beides ist naiv.

7. strukturell: die komplizierte Konfiguration des Gegnertums. Das ist vielleicht bereits mehr ein Symptom als eine Ursache. Einerseits gibt es scheinbar eine Schere der Gegnerschaften, die einen kämpfen gegen den Virus, die anderen gegen eine als falsch beurteilte Virusbekämpfung-Politik. Aber die Lage ist nicht symmetrisch, sondern verschränkt. Was die Massnahmen-Gegner betrifft, so wollen sie teils andere Massnahmen, teils gar keine. Und auch die Lockdown-Fraktion begründet ihr Programm asymmetrisch-ambig, nämlich teils den Kollateralschäden zum Trotz, teils um Kollateralschäden gerade zu verhindern. Die Fehdeparteien sind sich uneins sogar in der Identifikation des Problems selbst. Ein Grund mehr, der Metaebene mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

8. und zu guter Letzt, subjektiv ergänzt: der deutsche Pedantismus. Entschuldigung, wenn das nun seinerseits banal klingt, aber im Ländervergleich drängt es sich, finde ich, auf. Grosszügigkeit ist ein Charakterzug, der in der selben Himmelsrichtung zu finden ist wie Wurschtigkeit, da siedelt man in Deutschland aber gar nicht erst. Sicher, politische Akteure müssen penibel sein, wissenschaftliche erst recht. Aber Bürger, die einander gegenüber nicht auch mal fünfe gerade sein lassen können, werden zu Querulanten. Manchmal frage ich mich, ob Demokratie ohne eine abendliche Weinflasche auf dem Tisch überhaupt funktionieren kann. Selbst und gerade in tragischen und von Anlässen zu Ärger strotzenden Zeiten.

Das sind acht Punkte, und natürlich wäre so eine Liste damit noch alles andere als vollständig. Es kommt hinzu, wenigstens:

  • die Flip-Flop-Natur der Richtungsentscheidungen, die nur wenig Raum für Kompromisse oder gar eine „goldene Mitte“ lässt;
  • das ewige Problem der Prognostik und ihrer Unwägbarkeiten, von der in der Sache alles abhängt;
  • vielleicht die Angst vor der Ratlosigkeit (aber gerade derzeit kann man doch nur aus Ratlosigkeit heraus handeln?!);
  • vielleicht eine Archipelagisierung der Bildungslandschaft, in der Zusammenhänge verlorengehen (in welcher Schule oder welcher Universität wird derzeit versucht, etwas wie einen Überblick zu vermitteln?);
  • vielleicht eine Wohlstandsverzerrung der Probleme, die das Gelingende vor dem Hintergrund des Strittigen verzwergen lässt;
  • und zweifellos die Erschöpfung und der Überdruss nach über einem Jahr der ständig wechselnden Aussichten und der höchst widersprüchlichen Signale, die selbst die verlässlichsten Datensammlungen und dashboards aussenden.

Das letzte scheint mir überhaupt die grosse kognitive Herausforderung der Situation zu sein: damit umzugehen, dass sich partout kein konsistentes Bild ergeben will. Das Virus ist harmlos und grausam zugleich, Länder ohne strenge Massnahmen schlagen sich recht gut oder katastrophal, die Kollateralschäden sind den primären vergleichbar oder eben nicht oder übertreffen sie oder mit geringeren Massnahmen wären sie viel schlimmer – es gab mal diese Versuche, in denen man Hunde auf zwei verschiedene Signale trainiert hat, eines beruhigend, eines alarmierend, und dann die Signale bis zur Ununterscheidbarkeit einander angenähert. Die Hunde wurden wild vor Wut. Mir scheint, es geht uns ähnlich. Und damit wäre das auch noch ein Punkt für diese Liste, der Punkt 9: kognitive Wut angesichts der allzuvielen inhärenten Widersprüche im Geschehen.

Sowieso ist die Liste selbstverständlich weiter unvollständig und individuell, persönlich: eben nur ein Versuch. Aber was mich betrifft: Ich fühle mich unwohl, wenn ich mich frage, wohin die Stimmung im Land führt. Eine seltsame Lage. Leben unter grossem Druck im fundamental Ungewissen, aber kein äusserer Gegner in Sicht, gegen den man sich trotz allem verbünden könnte. Zum Glück eigentlich, und dennoch scheint alles so bedrohlich explosiv.


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