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Geschlecht als Sex plus Gender

Der folgende Beitrag ist in der Berliner Zeitung online (am 12.07.2022) und im Print (in der Wochenendausgabe vom 16.07.2022) erschienen unter dem Titel Zum abgesagten HU-Vortrag: Biologie ist keine schwäbische Ingenieurskunst. In der aufgeheizten Debatte nach der Absage eines Biologie-Vortrags an der HU hat er eine aussergewöhnliche Resonanz hervorgerufen, sowohl im negativen Sinne (mittlerer Shitstorm von Seiten der Verfechter einer Binarität) wie im positiven (vor allem bei Personen, die für Geschlechterfragen sensibilisiert sind).

Er ist von Gegnern wie Befürwortern offenbar häufig als ein Plaidoyer für die Beliebigkeit von Geschlecht gelesen worden, dabei ist seine eigentliche Stossrichtung eine ganz andere: Er wendet sich gegen die Dichotomie von Sex und Gender und argumentiert dafür, dass beide untrennbar ineinander verschränkt sind. Einmal mehr zeigt sich, dass Texte im Rahmen vorbestehender Erwartungen wahrgenommen werden, insbesondere in einer derart eskalierten Streitsituaton.



„Der größte Irrtum ist, dass es nur zwei Geschlechter gäbe“ – bei diesem Satz denken Sie wahrscheinlich an weiblich und männlich. Ich habe aber etwas anderes im Sinn, nämlich die zwei Begriffe Sex und Gender, die beide, jeweils auf ihre Weise, „Geschlecht“ bedeuten.

Die Begriffe sind in dieser Verwendungsweise relativ neu. Sie wurden nötig, als sich herausstellte, dass Geschlecht nicht nur eine biologische Kategorie ist, sondern auch sehr viel mit Gesellschaft, mit Rollen und mit psychosozialer Individualität zu tun hat. Der herkömmliche Geschlechtsbegriff wurde da zu pauschal und zu ungenau, und so hat die Forschung ihn aufgeteilt und redet heute sowohl vom Bio-Geschlecht (Sex) als auch vom Sozio-Geschlecht (Gender).

Das Bio-Geschlecht, sagen die Schulbücher und sagte kürzlich auch die HU-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht in ihrem abgeblasenen und dann auf YouTube nachgeholten Vortrag, wird durch die Geschlechtschromosomen bestimmt: XX weiblich, XY männlich. Alles andere – Kleidung, Verhaltensweisen, soziale Rollen – möge gern jede*r halten, wie sie/er will, es sei aber halt nicht Geschlecht.

Prozesse des Lebendigen
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XX versus XY: Das ist zwar in der Tat Biologie, aber es ist, in dieser rohen Form, die Biologie von vor vierzig Jahren. Die aktuelle Forschung sieht die Fragen von Chromosomen und Geschlecht deutlich subtiler. Ohne ins Detail zu gehen: Sie betrachtet das Genom nicht als starren Bauplan für den Organismus, sondern als Konglomerat aktiver molekulargenetischer Elemente, deren biologischer Sinn erst im Zusammenhang mit anderen Lebensprozessen entsteht – Stichwörter: Genomics, Evo-Devo, Systems Biology.

Das Vorliegen von XX oder XY (oder genauer: des SRY-Gens, das gelegentlich auch auf ein anderes Chromosom springen kann) eröffnet lediglich Entwicklungspfade für Zellen und Gewebe, die dann in den meisten Fällen zu einer charakteristischen Organausstattung führen. Aber da die Biologie bekanntlich wet and messy ist, eine feuchte und unordentliche Angelegenheit und keine schwäbische Ingenieurskunst, sind diese Pfade offen für Variation: Man hat schon bei kinderreichen Vätern Gebärmütter gefunden, außerdem gibt es nicht wenige Individuen, die genetische Chimären sind, also sowohl XX als auch XY-Zellen aufweisen – und so weiter und so fort.

Auch wenn die geschlechtsspezifischen Organ-Ausprägungen weitgehend mit der XX- oder XY-Ausstattung korrelieren: Beide zusammen sind noch lange nicht das ganze Geschlecht, auch nicht das biologische. Überhaupt ist dieses Wort – Geschlecht – ein wenig irreführend: Es klingt nach einer Farbe oder einem Bauteil, auf jeden Fall nach etwas Statischem.

In der Biologie ist aber alles Prozess: wimmelnde, unvorstellbar fein koordinierte molekulare Aktivität, unablässig sich selbst erhaltende pulsierende Lebendigkeit, Vivanz. Das Genom, wie oben schon gesagt, ist selbst ein dynamisches Ensemble mit seinem eigenen Verhalten, und auch unsere Organe sind keine „Dinge“, sondern eher teilautonome Sub-Lebewesen innerhalb unserer Körper. Insofern sollte man, mit einem Seitenblick auf den soziologischen Ausdruck Doing Gender, auch biologisch eher von sich vollziehenden Geschlechtern reden, im Sinne eines Verbs: das Leben geschlechtert.

Hormone und Gehirne
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Zum genetischen und zum organischen Geschlechtern tritt mindestens auch noch das hormonale hinzu, wohlbekannt etwa aus den endlosen und oft irregehenden Debatten ums Testosteron. Und die Hormone haben wiederum aufs Engste mit dem Gehirn zu tun: Weniger in dem Sinne, dass es „typisch männliche“ und „typisch weibliche“ Gehirne gäbe, als dass jedes Gehirn aus Modulen aufgebaut ist, die ihrerseits jeweils eher weiblich oder eher männlich ausfallen können.

Innerhalb ein und desselben Hirns sind dabei, wie die wegweisenden Forschungen von Daphna Joel und Cordelia Fine zeigen, die verschiedensten Kombinationen von Weiblichkeit und Männlichkeit möglich und können sich auch während des individuellen Lebens, je nach Tätigkeit und „Training“, recht kurzfristig verändern.

Was wiederum bedeutet, dass die unterschiedlichen Weisen des biologischen Geschlechterns, genetisches, organisches, hormonelles und eben neuronales, in ihrer weiblich-männlich-Ausprägung nicht unbedingt deckungsgleich zusammenfallen müssen. Insbesondere (Teil-)Widersprüche zwischen neuronalem und genetischem Geschlecht dürften sogar die Regel sein: Auch als XY-Mann habe ich sicherlich zahlreiche weibliche Gehirnareale.

Doing Gender
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Vom Genom startend nun beim Hirn angekommen, sind wir eigentlich schon nicht mehr ganz in der Biologie. Das heißt – natürlich ist das Hirn eine Lebendigkeit par excellence, ein hyperaktiver, kommunikationssüchtiger, in pausenlosem Signal-Megakonzert surrender Neuronenklumpen. Aber andererseits kippt dieses neurale Geschehen im Gehirn, auf noch immer weitgehend rätselhafte Art und Weise, ja unmittelbar hinüber in die Phänome des Bewusstseins, des Geistes, der Seele, der psychomentalen Identität, wie auch immer man es nennen möchte. Und da sind wir bereits mitten in der Gender-Thematik, beim Sozio-Geschlecht.

Doing Gender heißt, sich als Individuum in der Gesellschaft geschlechtlich zu verhalten, Geschlechterrollen zu „performen“ und diese dadurch zu reproduzieren oder auch zu verändern. Irgendetwas davon tun wir alle, ob wir wollen oder nicht. Wie die Urheber des Konzeptes, Candace West und Don H. Zimmerman, sagten: doing gender is unavoidable. Was daran liegt, dass die anderen Mitglieder der Gesellschaft mich immer als Person-mit-Geschlecht wahrnehmen: Mein performatives Geschlechtern lässt sich vom attributiven Geschlechtern meiner Mitmenschen nicht trennen.

Und diese Attribution oder Zuschreibung ist ihrerseits nicht möglich ohne die in unseren Gesellschaften, Sprachen, Kulturen verankerten – aber nicht in Stein gemeißelten – geschlechtlichen Rollenbilder und Gender-Stereotypen: ohne ein kulturelles Geschlechtern. Die Genderforscher selbst werden hier einiges zu ergänzen und vermutlich auch zu korrigieren haben, aber die Stoßrichtung dürfte klar sein.

Komplexes Geschlechtern
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Nun haben wir ein ganzes Spektrum von sehr verschiedenen biologischen und sozialen Weisen des Geschlechterns zusammen: genetisches, organisches, hormonelles, neurales, psycho-mentales, performatives, attributives und kulturelles. Das war es, worauf ich hinauswollte: Es wäre der größte Irrtum, zu meinen, es könne nur entweder Sex oder Gender als „eigentliche“ Kategorie geben und man habe dann das jeweils andere als irrelevant abzutun oder, wie im Fall des HU-Eklats, gar zu bekämpfen.

In Wirklichkeit gehen die verschiedenen Prozesse, die Sex und Gender konstituieren, fließend ineinander über und sind gegenseitig voneinander abhängig. So kann meine soziale Rollenwahl die modulare Verfasstheit meines Hirns beeinflussen, die Rollenwahl selbst wird wiederum beeinflusst von vorbestehenden kulturellen Codes. Das genetische Geschlechtern meiner Zellen beeinflusst über mein ganzes Leben hinweg meine organische Entwicklung, und die wieder, auf nicht immer vorhersagbare Weise, meine Rollenwahl. Sogar im genetischen Funktionskomplex können sich – über den Umweg der Genregulation und der Epigenetik – Einflüsse der Umwelt und meines eigenen Verhaltens bemerkbar machen. Es ist ein überaus verschlungenes Wechselspiel.

Und diejenigen Forschungsvorhaben, die wirklich am Puls der Zeit sind, ob sie ihren Ursprung nun in der Genderforschung oder in der Biologie haben, richten genau darauf auch ihr Augenmerk. Wie zum Beispiel die Gruppe um Sari van Anders an der kanadischen Queen’s University: Sie haben das neue Feld der Sozialen Neuroendokrinologie etabliert, das die Wechselwirkung von sozialen und hormonalen Geschlechterfaktoren erforscht. Dabei verzichten sie gänzlich auf die Trennung von Sex und Gender und lassen sich stattdessen vom kombinierten Kunstwort Gender/Sex leiten.

Solche aktuelle Forschung an der Schnittstelle von Biologie und Soziologie, die es mit der Komplexität der Problematik aufnimmt, anstatt sie durch ein museales Biologisieren zu vertuschen, wäre in der Tat ein lohnender Gegenstand für einen Vortrag bei der Langen Nacht der Wissenschaften gewesen.

Geschlechtliche Zukunftsverantwortung
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Mit dem Hinweis auf die gegenseitigen Beeinflussungen der zahlreichen biologischen und sozialen Faktoren von Geschlecht ist das Thema bei weitem nicht erschöpft. Etwa ist der Aspekt einer aktiven Manipulation des Bio-Geschlechts durch Hormone und Operationen, überhaupt der ganze Bereich der Geschlechter-Transition überhaupt noch nicht zu Wort gekommen. Und selbst den kann man ja auch noch weiterdenken: Es ist nicht ausgeschlossen, dass Technologien wie CRISPR/Cas früher oder später die Möglichkeit eröffnen, auch in das genetische Geschlecht aktiv einzugreifen, sei es im Keimzell-Stadium, sei es sogar beim erwachsenen Individuum. Was das bedeuten würde, ist heute noch in keiner Weise abzusehen.

Deutlich ist aber auch so: Wir Menschen sind aus einem langen Schlaf erwacht, in dem Geschlecht als etwas Gegebenes, Vorbestimmtes, Unveränderbares erschien. Gender und teilweise sogar Sex sind heute – in welchem Maße jeweils, das lässt sich noch nicht recht sagen – verfügbar und gestaltbar geworden. Damit tritt das Geschlecht in eine Reihe mit anderen Verfügbarkeiten jüngeren Datums: derjenigen des Atoms, der Ökologie und des Klimas, der Sprachpraktiken, der Fortpflanzung, der Genetik und, als neueste unter ihnen, der Intelligenz oder doch zumindest gewisser künstlicher ihrer Varianten.

Über all das haben wir inzwischen, mal mehr, mal weniger, selbst das Kommando übernommen – und halten damit plötzlich auch die Verantwortung in den Händen. Mit ihr umzugehen ist nicht leicht, denn das ist nur gemeinsam möglich: Die Geschlechtswelt, in der wir leben, lässt sich nicht teilen. Alle Menschen sind von den Kategorien Sex und Gender mitbetroffen. In welche Richtung sollen nun die Veränderungen gehen? Welche Möglichkeiten der Einflussnahme schöpfen wir aus, bei welchen bleiben wir zurückhaltend? Wo sind die Kriterien, nach denen wir all das bemessen können?

Die wichtigste Voraussetzung zur Beantwortung dieser Fragen ist, sowohl auf Kampfparolen wie auf verzerrende Vereinfachungen zu verzichten. Erst wenn man die realen Forschungen, Diskussionen und Reflexionen mitsamt ihren Begründungen, Methoden und Motivationen durchsichtig macht und zur Kenntnis nimmt, kann die starrsinnige Konfrontation in eine langfristige Bewältigung münden. Schauen wir also genau hin, was die verschiedenen Disziplinen zu Sex und Gender aktuell wirklich zu sagen haben. Dann wird auch ein Streit im Dialog wieder möglich: Unversöhnlichkeit ist meist nur ein Zeichen mangelnder Informiertheit.


Nachbemerkung
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vom 16.07.2022 auf facebook und twitter:

Die HU-Debatte um Sex/Gender hinkt an zwei Stellen, und dieses Hinken hängt jeweils an Fragen der Definition.

1. Man kann das biologische Geschlecht (Sex) gametisch, genetisch oder systemisch verstehen. Vollbrecht hat ein gametisches Verständnis von Sex: weiblich = grosse Keimzellen (Eizellen); männlich = kleine Keimzellen (Spermien). Aus dieser Anisogamie (nicht-gleiche Gameten) folgt strikte Binarität. Ein genetisches Verständnis von Sex (XX vs. XY) galt früher auch als binär, ist aber im Licht heutiger Entwicklungsbiologie eher bimodal zu denken (weibl. – männ. als „typisch“, aber mit Möglichkeiten untypischer, dennoch natürlicher/„normaler“ Varianten). Ein systemisches Verständnis von Sex schliesslich kombiniert das moderne genetische Verständnis mit hormonalen und neuralen/zerebralen Faktoren und rückt es noch ein Stück weiter aus der Binarität fort. Dieses Verständnis vertrete ich in meinem Aufsatz vom Dienstag und stelle es ins Licht einer prozessualen Ontologie der Biologie (ähnlich John Dupré, Univ. Exeter) – das ist die philosophische Ebene meiner Argumentation. Man hat dann, biologisch gesehen, etwas wie ein „multivektorielles Geschlechtern“ vor sich, mit der Möglichkeit verschiedenster geschlechtlicher Mischdynamiken.

2. Auf der jeweils tiefsten biologischen Ebene muss man sich also entscheiden zwischen gametischer und genetischer Sex-Definition. Hinter dieser Entscheidung steht, evolutionär gesehen, eine komplexe Henne-Ei-Frage (Diskussion um die „Origins of Sex“, um RNA-World, Gene Transfer, Symbiogenesis etc.). Meiner Ansicht nach sollte eine _moderne genetische_ Definition grundlegend sein, denn nur sie eröffnet den Blick auf die individuelle Entwicklung von der Zygote zum menschlichen Individuum, ohne die sich die Geschlechterproblematik weder umfassend verstehen noch praktisch-gesellschaftlich handhaben lässt.

3. Worüber wir reden und streiten, hängt ab davon, wie wir „Geschlecht“ verstehen. Vollbrecht versteht Geschlecht als biologisch-gametisch; klassische Gender-Theoretiker wie Judith Butler verstehen Geschlecht als sozial konstituiert. Beide Verständnisweisen sind legitim und gut begründbar, aber sie führen zu grundverschiedenen Begriffen von Geschlecht und kollidieren miteinander (wie man derzeit sieht).

4. Ich plädiere dafür, Geschlecht in einem übergeordneten Sinne zu verstehen, wie es heute sowieso zunehmend getan wird. Geschlecht ist Sex PLUS Gender. Und genauer: Geschlecht ist _systemisch_ verstandenes Sex plus (sozial verstandenes) Gender (s.o. 1. und 2.). Die deutsche Sprache hat hier für ein Mal den Vorteil, diesen dritten Begriff („Geschlecht“) bereitzuhalten, neben „Sex“ und „Gender“.

5. Mein Artikel ist von manchen Gegnern so gelesen worden, als argumentiere er für eine völlige Beliebigkeit von Geschlecht. Dabei mache ich schon im ersten Absatz deutlich: Ich wende mich nicht gegen „weiblich vs. männlich“ (mit denen ist es kompliziert, wie im Fortgang des Textes klar wird), sondern gegen eine andere (falsche) Dichotomie, nämlich „Sex vs. Gender“. Denn zwischen diesen beiden gibt es mehrere Interfaces, vor allem natürlich das hormonale System und das Gehirn (man könnte auch manipulierende Interventionen als weiteres Interface sehen). Von diesen Interfaces handelt mein Stück, und die Konzeption für den übergeordneten Begriffs von Geschlecht (also Sex PLUS Gender) ist wiederum eine des „multivektorielles Geschlechterns“ – ein Prozesszusammenhang, der sich gleichermassen durch biologische wie soziale Aspekte von Geschlecht hindurch erstreckt.

Der Artikel (heute auch im Print in der Wochenendausgabe) ist, soweit ich sehen kann, der meistdiskutierte der vergangenen Woche in der Berliner Zeitung. Auf twitter hat er einen mittelgrossen Shitstorm generiert von Seiten der strikten Binaritäts-Verfechter, andererseits hat er viel Zuspruch gefunden bei Personen, die für Geschlechterfragen sensibilisiert sind (aus der Geschlechterforschung, aber nicht nur). Insgesamt hat das Stück stärker polarisiert, als ich erwartet hatte – denn eigentlich sollte solch ein framework anschlussfähig für beide Parteien sein. Ein Zeichen, denke ich, dass die Debatte noch nicht zu Ende ist.