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Liberal, liberal und liberal – und Putin

Was wer meint mit dem Begriff “Liberalismus” — zum Financial Times-Interview vom 27.06.2019

Was für ein Durcheinander, was den Begriff “Liberalismus” angeht. Und zwar sowohl bei den Kommentatoren wie bei Putin selbst. Und vermutlich auch beim Interviewer, denn es kann überhaupt niemand heute das Wort “Liberalismus” verwenden, ohne sich selbst und seine Zuhörer in Verwirrung zu stürzen.

“Liberalismus” hat mindestens drei aktuelle Bedeutungen, und auf die eine oder andere Weise ist jede von ihnen wiederum vage, problematisch oder beides.

Liberalismus null
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Zuvor: Die ursprüngliche, die sozusagen nullte Bedeutung stammt aus dem Liberalismus der englischen Aufklärung, siehe Urvater John Locke. Locke denkt die Gesellschaft vom Individuum her (und nicht, wie zuvor, vom Monarchen), das Individuum hat einen freien Willen, es gibt sich gemeinsam mit anderen Individuen eine Überstruktur, den rechtlich organisierten Staat, der wiederum die Freiheitsrechte des einzelnen schützt. Das ist der Gegenentwurf zu Hobbes’ absolutistischem Leviathan.

Dieser Liberalismus null ist heute historisch. Er ist von allen westlichen Gesellschaften aufgesogen und internalisiert worden und damit — als politisches Paradigma — weitgehend unerkennbar geworden.

Liberalismus eins, zwei und drei
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Der Liberalismus eins, der heute politisch wirksam ist und entsprechend debattiert wird, ist der wirtschaftliche Liberalismus des Marktes, à la Adam Smith. Wir haben ihn bzw. seine modernen Varianten in Parteiprogrammen wie dem der FDP, im sogenannten Neoliberalismus und in vielen Aspekten der Globalisierung. Wir haben ihn aber auch als Grundlage des Fortschritts der westlichen Nationen und: Chinas.

Der Liberalismus zwei ist der kulturelle oder gesellschaftspolitische Liberalismus. Er akzentuiert die Gleichheit der individuellen Freiheitsrechte und leitet daraus ein gesellschaftlich-politisches Transformationsprogramm ab, Stichwort: diversity, aber auch Identitätspolitik. Menschen sollen unabhängig von ihrer ethnischen und sozialen Herkunft und unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung gleich frei sein. Die Politik hat die Aufgabe, dafür die Voraussetzungen zu schaffen. Auch der Liberalismus zwei ist ambivalent, siehe die Diskussion um Identitätspolitik.

Der Liberalismus drei ist der Liberalismus der internationalen Beziehungen, wie er sich im US-amerikanischen (und später allgemein westlichen) Programm manifestiert, “to make the world safe for democracy” (Woodrow Wilson). Die Staaten sollen die gleiche Rolle einnehmen wie die Individuen im klassischen Liberalismus (Liberalismus Null) und sich selbst eine übergeordnete rechtliche Ordnung geben: das Völkerrecht. In politische Praxis umgesetzt seit Ende WK I, Völkerbund, der dann gescheitert, dann UNO, aber zugleich auch US-Interventionismus, W. Bush. Ein ambitioniertes Programm, das einerseits seit WK II viele Erfolge gebracht hat, dessen weiteres Schicksal aber heute wieder schwerer absehbar ist als schon einmal.

Von Woodrow Wilson bis zur UNO: IB-Liberalismus in Theorie und Praxis

Putins Liberalismus
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Ok.

Wovon redet Putin, wenn er sagt, “der Liberalismus” sei am Ende? Man hat den Eindruck, in erster Linie vom Liberalismus zwei, vom diversity-Liberalismus / Identitätspolitik. Er macht es fest am Migrationsthema und behauptet, Migranten könnten “im Liberalismus” ungestraft Verbrechen begehen.

Das können sie natürlich nicht, insofern ist das Quatsch. Andererseits sind selbst viele Liberale überzeugt (ich gehöre dazu), dass ein rigoroser Liberalismus zwei, also ein kulturell-gesellschaftlicher “Hyperliberalismus”, in Selbstwidersprüche hineinrauscht. Denn a) wirkt die Identitätspolitik nicht nur ausgleichend, sondern auch divisiv, und b) läuft eine ungeregelte Migration Gefahr, die Kohärenz der Aufnahmegesellschaft zu untergraben. Selbst der Bilderbuchliberale Fukuyama sagt dies inzwischen.

Putins Kritik ist pauschalisierend und inkompetent, aber dass es etwas zu kritisieren gibt, ist eine Tatsache. Insofern ist seine Kritik — in meinen Augen — zunächst einmal nicht mehr als die Brecheisen-Polemik eines Politikers, der intellektuell nicht allzu tief in dieses Thema eingedrungen ist.

Westlicher liberaler Konsens
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Will, ja kann womöglich Putin das Ende “des Liberalismus” herbeiführen oder beschleunigen (wie Bannon es will)? Um auf diese Frage zu antworten, muss man eine andere stellen, nämlich: Um das Ende welchen Liberalismus geht es?

Man kann, wenn man die Liberalismen eins, zwei und drei zu einem Bündel zusammenfasst (das aus dem Liberalismus null entspringt), grob, sehr grob sagen: Es gibt oder gab einen “westlichen liberalen Konsens”, in dem sich in unterschiedlichem Masse Wirtschaftsliberalismus, Kultur- / Diversityliberalismus und Liberalismus der internationalen Beziehungen (also Liberalismus eins, zwei und drei) mischen und durchdringen.

Schaut man hinter Putins Worte, so richten sich seine Angriffe wohl gegen diesen westlichen liberalen Konsens. Er glaubt nicht an ihn und arbeitet ihm entgegegen. Das ist das Illiberale an seiner Politik.

Ist das skandalös? — Hier wird es sehr komplex. Denn erstens hat dieser westliche liberale Konsens längst begonnen, sich selbst zu kritisieren (siehe oben, oder auch Antiglobalismus), zweitens thematisiert Putin die Globalisierung (verbunden mit Liberalismus zwei) in recht differenzierten Begriffen, drittens thematisiert er den Völkerrechts-Teil des Liberalismus (den Liberalismus drei) wie immer auf eine sehr taktische Art (Syrien), viertens diskreditiert er seine eigene politische Kritikfähigkeit (deren “Ethos”) zumindest in einem gewissen Grade durch seine Unaufrichtigkeit zum Fall Skripal und seine (in unseren Augen) vulgäre, Clan-hafte Einstellung zum “Verrätertum”.

Die Dreieinigkeit umbacken
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Ich würde sagen, es gibt in dem Interview — was diese weltanschaulichen Dinge angeht — nicht viel Neues. Aber eben auch nichts, was den entsetzten Aufschrei “Er will unseren Liberalismus zerstören” (ein Anti-Rezo!) rechtfertigt.

Wir sollten den Liberalismus nicht hostienhaft vor uns hertragen. Seine Dreigliedrigkeit ist auch keine unantastbare Trinität, sondern im Gegenteil, sie zeigt sowieso deutliche Risse, und es geht darum, herauszubekommen, welche Teile noch gut zusammenhalten und welche Brösel und Bröckel man vielleicht irgendwie umbacken sollte.

Ob Putin, offenbar ohne genauere Orientierung in diesem komplizierten framework, da nun ein wenig gegen ätzt oder nicht, scheint mir im Vergleich dazu ziemlich irrelevant.


Hier das volle Interview ohne paywall auf Englisch (nicht auf Wortgleichheit überprüft): http://en.kremlin.ru/events/president/news/60836



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