Zum fundierten politischen Urteilen braucht es mehr als News. Es braucht News und Clues — Nachrichten und medial vermittelte Denkmittel. Der Krieg in der Ukraine zeigt es einmal mehr.
Die politische Wirklichkeit ist eine mediale Wirklichkeit. So gut wie alles, was wir über Problematiken wie Covid, Klima, Migration, Energie, Mobilität, Geschlecht, Bildung oder den Krieg in der Ukraine wissen, wissen wir aus den Medien. Die eigene, unmittelbare Erfahrung bleibt im besten Falle punktuell. Sie allein genügt nicht, um zu den politischen Fragen, die diskutiert werden und die entschieden werden müssen, kompetent Stellung zu beziehen: Unsere Vorstellungen von Zusammenhängen, Ursachen, Szenarien, ja von den politischen relevanten Geschehnissen selbst sind durchweg medial vermittelt. Heute kommt kaum mehr etwas in den Verstand hinein, das nicht zuvor in den Medien gewesen ist.
Wenn es stimmt, dass die Medien unsere politische Wirklichkeit erzeugen, dann ist ihre Verantwortung immens. Dementsprechend intensiv wird derzeit auch über sie diskutiert. Soll im Journalismus weiterhin das Ideal der Objektivität gelten, oder sollen Journalisten sich positionieren? Wird durch eine Abkehr von der Objektivität Vertrauen in die Medien zerstört oder im Gegenteil gerade geschaffen? Wie lässt sich „Qualitätsjournalismus“ definieren und vor allem — wie lässt er sich realisieren?
Es fällt auf, dass sich diese Diskussionen durchweg um Journalismus drehen — Medien und Journalismus werden gleichgesetzt. Aber natürlich ist nicht jedes Medium ein journalistisches Medium. Die Wikipedia etwa— zweifellos Es fällt auf, dass sich diese Diskussionen durchweg um Journalismus drehen — Medien und Journalismus werden gleichgesetzt. Aber natürlich ist nicht jedes Medium ein journalistisches Medium. Die Wikipedia etwa— zweifellos ein Medium, und eines, das für die medial-politische Wirklichkeit eine beträchtliche Rolle spielt — beruht nicht auf Journalismus. Auch viele Projekte der Wissenschaftskommunikation, Analyse- und Forschungsportale wie The Conversation, Geschichte der Gegenwart oder Quanta Magazine oder auch Citizen Thinktanks wie 1E9 zielen auf eine Form von Medialität, die nur noch bedingt etwas mit Journalismus zu tun hat. Und auch soziale Medien sind nicht im eigentlichen Sinne journalistisch.
Medien — das ist mehr als „nur“ Journalismus. An der Konstitution der medial- politischen Wirklichkeit haben nicht-journalistische Medien ebenso teil wie journalistische. Vielleicht diskutieren wir, wenn wir uns ausschliesslich auf die Probleme des Journalismus konzentrieren, die falschen Fragen?
Medien. Was wir landläufig als Medien bezeichnen, lässt sich grob in drei Sektoren aufteilen: erstens die journalistischen Medien, also Informations- oder Nachrichtenmedien, zweitens soziale Medien und als Drittes: Medien, die uns zwar auch informieren, aber nicht über die aktuellen Ereignisse, sondern zum Beispiel über Argumente, Denkmodelle oder Theorien — Medien wie die Wikipedia, aber eben auch viele der gerade neu entstehenden, oft ausgesprochen wissenschaftsnahen Medienformate. Nennen wir sie kognitive Medien oder Kognitionsmedien — was heissen soll: Medien, in denen man die Werkzeuge findet, um über etwas nachzudenken. Über journalistische Information zum Beispiel, über News.
News. All the News That’s Fit to Print — so heisst es seit 1897 ununterbrochen auf Seite eins der New York Times. Ein souveräner Slogan. Kein Wunder, dass er so lange unverändert blieb. Und in der Tat: News sind das Kerngeschäft des Journalismus. Hinzu kommen Kommentare, Analysen, Reportagen, Interviews und viele andere journalistische Formate. Aber auch sie bleiben immer an die Aktualität gekoppelt.
Und diese Aktualität ist eine wechselhafte Angelegenheit. Was gestern wichtig war, ist heute schon vergessen. Aber was heute geschieht, scheint stets den höchsten Grad von Dringlichkeit zu haben. Die News fordern uns unablässig auf: Beschäftige dich mit mir, jetzt! Setz’ dich mit mir auseinander, unverzüglich! — Aus den News Media ergiesst sich ein hektischer Strom von Informationen, in ständig neuen Wellen. Es mit jeder von ihnen aufzunehmen, jede von ihnen zu verarbeiten ist schlicht unmöglich. Niemand kann ständig über alles auf dem Laufenden bleiben.
Dieser Post hat einen ernsten Gegenstand, aber lauschen wir dennoch einmal kurz hinüber zu Helge Schneider. Der fährt auf seinem Moped beim Kiosk vor, nur um dann ohne Zeitung wieder abzuziehen: „Wenn jeden Tag was anderes drinsteht, dann isses auch sowieso Quatsch …“
Albern, natürlich. Oder doch nicht ganz und gar? Es ist ja schon einen Gedanken wert: Was bringt es überhaupt, ununterbrochen über alles informiert zu sein? Oder, anders herum gewendet: Reicht es, nur informiert zu sein? Versteht man dadurch wirklich besser, was in der Welt geschieht?
Clues. Clues — von denen redet man im Englischen meist, wenn sie fehlen: I have no clue — Ich habe keine Ahnung. Die Wörterbücher übersetzen „Clue“ mit Hinweis, Anhaltspunkt, Schlüssel zu einem Problem.
Das Wort ist interessant. Es kommt von clew, mit „w“ hinten geschrieben, also von Garnknäuel. Ein Clue, das ist der Ariadnefaden, an dem man sich aus einem Labyrinth heraushangelt. Und wenn man sagt I have no clue, dann meint man ja meist auch nicht, dass man von irgendetwas noch nie etwas gehört hat. Sondern dass man zwar weiss, worum es geht, also informiert ist — aber geistig nicht damit zurecht kommt, sich keinen Reim drauf machen kann.
Sich einen Reim auf etwas machen: Dazu braucht man Theorien, Modelle, Vergleiche, Logiken, Hypothesen, Prinzipien, Argumente. In anderen Worten: Man braucht Denkmittel, Kognitionsinstrumente. Eben Clues. Und man braucht Medien, aus denen man diese Clues beziehen kann: Medien aus dem dritten Sektor des obigen Schemas, aus dem der kognitiven Medien.
Natürlich ist „News vs. Clues“ ein wenig ein Wortspiel. Man könnte auch einen stärker technischen, stärker akademischen Begriff verwenden. Man könnte, in Anlehnung an den gebräuchlichen Ausdruck „Narrative“, statt von Clues von Kognitiven sprechen. Ein Kognitiv ist dann, genau wie ein Clue, ein Interpretationsmuster, ein Denkmodell, eine Mini-Theorie. Und das, was gerade in den sozialen Medien so oft aussieht wie ein Kampf um die eine, absolute Wahrheit, ist oft in erster Linie ein Kampf zwischen verschiedenen Sets oder Repertoires von Kognitiven.
Politik. In einer Demokratie kommt es darauf an, dass die Bürger politisch urteilen können. Dafür sind freie, faktenorientierte, kritische Informationsmedien die unabdingbare Voraussetzung. Aber fürs politische Urteilen benötigt man mehr als „nur“ Information. Zum Beispiel: Ich kann perfekt darüber informiert sein, was im entsetzlichen Krieg in der Ukraine gerade passiert, welche Angriffe es gibt und welche Opfer, was die leidenden Menschen sagen und was die Politiker. Und ich kann in meinem politischen Urteilen trotzdem vollkommen hilflos bleiben.
Ich höre all diese Kriegsberichterstattung, die Expertenstimmen in den Talkshows, und dennoch drehen sich die Fragen weiter im Kopf: Warum geschieht das alles überhaupt? Muss jetzt gekämpft werden oder im Gegenteil verhandelt? Was ist mit Waffenlieferungen?
Ja — welche Politik ist die richtige? Politisch zu urteilen heisst, in solchen Fällen zu einem Ergebnis darüber zu kommen, was man selbst will und für richtig hält. Es heisst, eine Politik-Option einer anderen vorzuziehen — und zwar nicht aus einer vorgefassten Meinung oder einem spontanen Reflex heraus, sondern bewusst, reflektiert und mit guten Gründen. Aus Gründen, die man auch gegenüber anderen — und sich selbst! — vertreten kann. Um meine Urteilskraft in dieser Weise auszuüben, brauche ich mehr als News. Ich brauche News und Clues.
Clues und die News. Clues, Denkmittel, „Kognitive“ — also Theorien, Logiken, Modelle, Hypothesen, Prinzipien, Ideen, Argumente etc.— sind natürlich auch in den News-Medien zu finden. Die Frage ist, welche Rolle sie dort spielen. Die ist nämlich fast immer eine verdeckte. Und das ist ein wichtiger Punkt.
Wenn ich zum Beispiel ein Interview mit einem Militär-Experten lese, dann analysiert und interpretiert auch der die Kriegsereignisse anhand von Theorien, Modellen, Logiken, Vergleichen etc. Jede Analyse ist zugleich auch eine Interpretation. Was nicht heisst, dass alles, was gesagt wird, „subjektiv“ oder gar willkürlich wäre. Es stehen ja immer Fakten dahinter, sonst hat das ganze Interview keinen Wert.
Aber selbst wenn alle Fakten stimmen, können zwei verschiedene Experten, und zwar zwei gleichermassen kompetente, zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Die erscheinen mir als Leser in Gestalt zweier „Positionen“. Und sie unterscheiden sich, ja widersprechen einander, weil die Experten unterschiedliche Denkmittel verwenden, unterschiedliche Clues. Aber darüber werden sie selbst nicht reden — andere Denkmittel als die eigenen zur Sprache zu bringen, kostet nicht nur viel Zeit, es führt vor allem fast immer zu einer Schwächung der eigenen Position. Wer seine eigene Sichtweise starkmachen will, möchte das vermeiden.
Aber nicht nur bei Analysen und Kommentaren, auch bei den eigentlichen News, bei den Nachrichten und der Berichterstattung, spielen Vorannahmen, Theorien, Modelle usw. eine grosse Rolle. Rudolf Augsteins berühmtes Journalisten-Motto „Sagen, was ist“ steckt eben doch voller Tücken, eine zu 100% neutrale Berichterstattung kann es gar nicht geben. Sobald man beginnt, über ein komplexes Ereignis zu reden, sind immer schon verschiedenste Clues im Spiel. Allein schon, weil man auswählen muss, irgendwo beginnen, etwas weglassen — worüber man bewusst oder unbewusst eine Entscheidung zu treffen hat. All das ist medienwissenschaftlich immer wieder untersucht worden. Und es spielt natürlich auch in den derzeitigen Debatten zum zeitgemäßen Journalismus eine Rolle.
Die Clues laufen in den Informationsmedien also immer im Hintergrund mit, aber sie werden kaum einmal als solche thematisiert. Sie bleiben unsichtbar, versteckt, verborgen, oder zumindest: Sie bleiben eingebunden in ihren Träger-Text. Sie lassen sich nicht ohne weiteres aus ihm herausoperieren und nebeneinanderstellen, so dass man zwischen ihnen bewusst abwägen und wählen könnte. Dazu braucht es ein ganz anderes Format.
Clues Media. Hier kommen die Clues Media ins Spiel, die ausdrücklichen Kognitionsmedien mit ihren von der Aktualität distanzierten, „theoretischen“ Inhalten, der dritte Sektor im oben skizzierten Schema der Medienlandschaft. (Den zweiten, die sozialen Medien, klammern wir hier weitgehend aus: Sie sind wichtig für Diskurs und Demokratie, und sie sind bekanntlich nicht unproblematisch — aber das ist ein anderes Thema.)
Als ein klassisches Beispiel für Kognitionsmedien hatte ich oben die Wikipedia erwähnt. Vermutlich kennt es jeder aus eigener Erfahrung: Man findet in den Informationsmedien einen Hinweis auf einen komplexen Sachverhalt, vielleicht wird von einer aktuellen politischen Situation eine Parallele zu einem historischen Vorbild gezogen. Man fragt sich, ob der Vergleich stichhaltig ist und überprüft noch einmal in der Wikipedia die Details. Oder man schlägt Theorien nach über die internationalen Beziehungen von Staaten zueinander, oder über Forschung zu Kriegsursachen oder zu ethisch verantwortungsvoller Kriegsführung.
Was die Wikipedia bietet, könnte man die enzyklopädische Variante von kognitiver Medialität nennen. Es gibt aber natürlich auch andere Arten von Kognitionsmedien, die man nutzen kann. Man kann zum Beispiel in politikwissenschaftlichen Fachzeitschriften nach relevanten Artikeln suchen. Fachzeitschriften sind ja ebenfalls Medien, und ebenfalls keine journalistischen. Aber so eine Recherche ist ein grosser Aufwand, und man muss schon fast selbst Historiker sein, um alle Details verstehen und verarbeiten zu können.
Auch der Wissenschaftsjournalismus ist Teil des kognitiven Sektors der Medienlandschaft. Wobei er, als journalistische Disziplin, mit einem Bein weiterhin im Sektor der Informationsmedien steht. Die derzeit sich rasant entwickelnde Wissenschaftskommunikation, die neue Wege des Austauschs zwischen der wissenschaftlichen Sphäre und der Öffentlichkeit sucht, gehört ebenfalls hierhin. Aber damit sind die Möglichkeiten dieses Mediensektors noch lange nicht erschöpft. Die Kognitionsmedien haben als Mediengattung, weit über Wikipedia, Wissenschaftsjournalismus und Fachzeitschriften hinaus, ausserordentlich viele weitere Entwicklungsmöglichkeiten.
Clues Store. Hier eine Vision: Die Vision von einem Clues Store. Stellen Sie sich ein grosses Geschäft vor, oder ein Lager, eines für Autoersatzteile oder noch besser für Werkzeuge — ja, ein riesiges Werkzeuggeschäft. In dem sind in mehretagigen Regalen Hammer und Schraubenzieher und Kreissägen und Lötkolben und zahllose Dinge mehr ausgestellt, bei vielen weiss man auf den ersten Blick gar nicht zu sagen, wozu sie eigentlich dienen.
Aber man orientiert sich bald: An den Regalen sind alle Werkzeugklassen und -varianten feinsäuberlich angeschrieben und man kann nach Belieben durch das Geschäft hindurchgehen und jedes angebotene Stück in die Hand nehmen. Und an jedem Werkzeug ist seine Herkunft dokumentiert: Der Produzent, die Materialien, eine Kurz-Gebrauchsanweisung und auch sonst alles, was man über diese Werkzeuge wissen muss. Nur dass es eben Denkwerkzeuge sind.
Und nun können Sie in Ruhe vergleichen und auswählen. Und legen sich das, wofür Sie sich entschieden haben, in Ihren Korb und gehen zur Kasse und arbeiten damit dann zu Hause — Sie verfertigen etwas, Ihr Denkprodukt. Vielleicht aus dem News-Rohmaterial, das Sie in der Abteilung nebenan auch gleich noch mitgenommen haben.
Und nach Ihrem Besuch im Clues Store wissen Sie natürlich auch, welche anderen Werkzeuge es noch gegeben hätte, die sie zwar angeschaut und ausprobiert, dann aber nicht ausgewählt haben. Und Sie können sich gut vorstellen, dass das, was Sie da zu Hause jetzt vielleicht herstellen, etwas ganz anderes geworden wäre, wenn sie diesen anderen Werkzeuge gewählt hätten. Wie oben gesagt: Die Verwendung unterschiedlicher Kognitive führt zu unterschiedlichen Denkergebnissen.
Informationsfalle. So einen Clues Store in der Nähe zu haben, wäre nützlich, aber es sind kaum welche zu finden. Was es hingegen überall gibt, und deshalb verbindet man das Wort „Medien“ auch so selbstverständlich mit Journalismus, das sind mediale Info-Märkte — News Stores. Wir haben — zum Glück! — grossartige, sehr vielfältige und erstklassig sortierte Nachrichten-Märkte. In ihnen findet man jede Information, die man braucht — immer passend zur Aktualitäts-Saison.
Aber Sie finden da kein gut sortiertes, gut präsentiertes Sortiment an Clues. Im Gegenteil, Clues entdeckt man bei Info-Produkten nur bei genauem Hinschauen im Kleingedruckten der Zutatenliste, und sie sind da ebenso verschämt angezeigt wie die E-Zutaten in Lebensmitteln. Man bekommt sie fast ein wenig untergejubelt, ohne das richtig zu merken.
Ich denke, all das birgt eine grosse Gefahr: Die Gefahr, dass wir in einer Informationsfalle gefangen sind, ohne das zu bemerken. Wir haben wirklich alles an Information, was Herz und Kopf begehrt. Und damit, meinen wir, sind wir doch vollständig medial versorgt. Oder sogar überversorgt? Oder auf eine Weise … fehlversorgt?
Hier sind wir fast schon wieder bei Helge Schneider. Das Volatile, Wechselhafte, Hektische, Wogende der Aktualität macht Zeitungen zwar nicht zu „Quatsch“, aber es geht doch etwas sehr Wichtiges verloren, wenn man nur wie gebannt aufs Tagesgeschehen starrt.
Sicher, die Idee, mit All The News That’s fit to Print könne man sich medial die Welt erschliessen, ist naheliegend und verlockend. Aber wenn man sie wortwörtlich nimmt, dann verpasst man die Frage, ob nicht auch noch andere Medien mit anderen Inhalten nötig sind, um wirklich bewusst und selbstverantwortlich politisch urteilen zu können. Medien, die es ermöglichen, sich genauso mit Clues bekanntzumachen und zwischen ihnen auszuwählen, wie wir es mit News gewohnt sind zu tun.
In meiner Vision von der idealen medialen Welt gibt es diese Medien. In ihr haben wir nicht nur einen gut geführten, vielseitig ausgestatteten, „tagesfrischen“ Infomarkt gleich ums Eck, der uns das tägliche Rohmaterial fürs politische Urteilen liefert. Sondern wir haben direkt daneben auch einen exzellent sortierten Clues Store mit einer grossen Auswahl an unterschiedlichsten Qualitätswerkzeugen, die man zur weiteren Verarbeitung der News benötigt.
Und beide Märkte sollten immer leicht und für jeden zugänglich sein, am besten noch gemeinsam, unter einem Dach. Als eine Art Media-Superstore. So würde ich mit eine integrierte, informativ-kognitive Medialität für das 21. Jahrhundert vorstellen.
Meine Clues Media-Story. 2015, direkt nach der Krim-Annexion, habe ich mit dekoder.org so etwas wie ein Clues-Medium entwickelt, ohne allerdings dieses Wort dafür bereits im Sinn zu haben. dekoder bietet ausser russischen und belarussischen Journalismus-Beiträgen in deutscher Übersetzung auch wissenschaftliche Inhalte, die — als Verstehens- und Denkmittel — historische, politische oder kulturelle Hintergründe liefern. Dieses hybride Konzept hat sich bewährt, und das Portal ist im Kontext des Krieges noch einmal wichtiger und gefragter geworden.
Die Clues-Komponente von dekoder entstand als Reaktion auf das Unverständnis der ersten Testleser. Ich hatte drei übersetzte Texte aus unabhängigen russischen Medien (damals gab es ein breite mehr oder weniger freie Medienlandschaft in Russland!) Freunden und Kollegen geschickt. „Interessant“, sagten viele, „aber irgendwie erschliesst sich mir beim Lesen vieles nicht. Was soll das sein, Haus am Ufer? (Erklärung: ein berühmtes Moskauer KGBler-Wohnhaus.) Oder Siloviki? Oder die „Staatsmacht“, russischVlast’? — Da ist es wieder: Die Informationen sind da, aber man kann ihren Sinn nicht ausreichend entschlüsseln. Ich kann mir keinen Reim machen: I have no clue.
Also kamen in der Konzeption des Sites mittellange „Erkenntnis-Texte“ hinzu, die mittlerweile im Umkreis des Projekts legendär-berüchtigten „Gnosen“ (gr. gnosis: Erkenntis). Sie werden fast immer von Personen aus der Forschung verfasst und gehören damit auch zum dritten, „kognitiven“ Mediensektor.
te.ma ist im Vergleich zu dekoder noch weitaus deutlicher kognitionsmedial. Sicher, die Plattform ist, wie viele digitale Medien derzeit, eine Art Mischling. Sie kombiniert „magazinige“ Komponenten mit einem stetigen Strom unmittelbarer entry points in wissenschaftliche Fachdiskurse, präsentiert den Content in einer durchsuchbaren und customisierbaren Datenbank und bettet ihn in eine Community ein, die auf ruhige, tiefgehende Diskussionen zielt. Aber aus der theoretischen Sicht betrachtet, ist te.ma doch vor allem eins: ein anspruchsvoll sortierter Clues Store.
Die Clues kommen aus verschiedenen etablierten Wissenschaften und aus der einschlägigen Praxis. Auf der Plattform sind sie aber nicht nach Disziplinen organisiert, sondern nach Thematiken — daher auch „te.ma“. Eine Thematik wird dabei immer für ein halbes Jahr aufbereitet — wir nennen das einen Kanal. Seit Herbst 2022 laufen Kanäle zum Krieg in der Ukraine und zu geschlechtergerechter Sprache, aktuell ist im April 2023 ein Kanal zu Künstlicher Intelligenz in Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster Maschinelles Lernen der Universität Tübingen gestartet. Jeder Kanal wird unmittelbar von Fachwissenschaftlern kuratiert, die meisten sind Doktoranden und Postdocs.
Diese kuratierende Vor-Sortierung der Kognitionsmittel sehen wir als Service für alle politisch-wissenschaftlich nachdenkenden Netzbürger und für Journalisten, Youtuber, akademische Autoren oder andere Content Creators, die sich einen fundierten und pluralen Hintergrund an Denkmitteln verschaffen wollen.
Clues zum Krieg. Wie das konkret gemeint ist, dazu noch einmal zurück zum Krieg in der Ukraine. Derzeit wird, nicht zuletzt durch den Aufruf „Manifest für den Frieden“ von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, in der deutschen Öffentlichkeit vermehrt die Frage diskutiert, ob man nun die Ukraine weiter bewaffnen sollte oder „im Gegenteil“ Friedensverhandlungen anstreben sollte. Ich habe das „im Gegenteil“ in Anführungsstriche gesetzt, denn es handelt sich um einen falschen, künstlichen Widerspruch: In Wirklichkeit sind ja militärisches und diplomatisches Handeln immer aneinander gebunden. Die Frage ist allerdings, wie beides jeweils ausgestaltet und zueinander gewichtet wird.
Simple Logiken wie „Waffen befeuern den Krieg“ (oder, andersherum, „Waffen gewinnen den Krieg“) führen in diesem Fall nicht weit. Um zu einem ernstzunehmenden politischen Urteil zu gelangen, braucht man subtilere, differenzierte Denkmittel. Zum Beispiel muss man sich fragen, ob und wie sich mögliche heutige Verhandlungen von denen vor dem Krieg unterscheiden würden und ob wohl heute andere Ergebnisse als damals zu erwarten wären.
Die Autorinnen reden von Waffenstillstand — wie sieht es mit nichtmilitärischen, nämlich wirtschaftlichen Kriegsmitteln aus (und was heisst das wiederum für die Frage, wer an diesem Krieg wie beteiligt ist?)?
Und selbst wenn Verhandlungen erfolgreich wären — was folgt danach? Könnte das Ziel sein, eine Internationale Territorialverwaltung einzurichten, ähnlich wie zwischenzeitlich in Kroatien oder zuvor einmal in Kambodscha? Und würde das überhaupt vonseiten der Ukraine selbst eine Option sein, wenn man annimmt, dass sie sich derzeit in einem Befreiungskrieg befindet, ähnlich wie Algerien in den 1950er und 1960er Jahren? Oder, andersherum: Was würde geschehen, wenn Russland tatsächlich militärisch besiegt würde? Würde das zu nachhaltigem Frieden führen oder zu neuen Aggressionen?
All das — und natürlich gibt es noch weitaus mehr — sind Denkmittel, um in angemessener Weise mit dem Fragenkomplex von militärischem Widerstand einerseits, diplomatischen Verhandlungen andererseits umzugehen, und man muss sie, soweit das denn möglich ist, simultan zusammendenken, um zu einem fundierten, belastbaren Urteil zu gelangen.
Zusammendenken aber kann man sie wiederum nur, wenn man sie einem auch gleichzeitig zugänglich sind, möglichst an ein und demselben Ort, so dass man sie sich nebeneinander im Browser öffnen kann, sich in sie vertiefen, sie vergleichen, den einen noch weiter nachgehen, für die anderen Gegenargumente finden und so weiter. Allein durch den Gebrauch von aktualitätsgekoppelten Informationsmedien wird einem das kaum jemals gelingen.
Eine solche tiefergehende, in einem gewissen Abstand vom Tagesgeschehen sich abspielende Versiertheit in einer Problematik zu erlangen, ist nicht nur für die Qualität des eigenen politischen Urteils wichtig. Sie stellt zugleich ein Mittel gegen die Freund-Feind-Logik dar, die derzeit die ehemals so optimistisch gehegten Ideen einer digitalmedial gestützten Demokratie in Gefahr zu bringen droht. Denn je besser die Denkmittel sind, mit denen an sich der Frage nähert, desto klarer wird, dass die gesellschaftliche Lagerbildung „Bewaffnung oder Verhandlungen“ eben weder der Komplexität der Lage sachlich gerecht wird noch überhaupt reale Politikoptionen abbildet.
Woraus sich wiederum folgern lässt, dass die Schaukämpfe zwischen „Bewaffnern“ und „Verhandlern“ eine viel zu hohe Aufmerksamkeit bekommen. Diese Kämpfereien selbst sind nämlich die eigentlichen Bubbles: Seifenblasen, in denen eine Debatte ohne Kraftschluss auf die Wirklichkeit stattfinden, und die mit den geeigneten Instrumenten — Werkzeugen, Denkwerkzeugen — leicht zum Platzen gebracht werden können.
Clues Media und die Medien-Diskussion. Zu Beginn dieses Artikels hatte ich die Frage aufgeworfen, ob wir nicht eigentlich an der Sache vorbei diskutieren, wenn wir in der Mediendebatte immer und ausschliesslich den Journalismus problematisieren.
Dass die politisch-mediale Wirklichkeit in einer Krise steckt (es ist tatsächliche eine Krise der Wirklichkeit, der Welt, wie sie auf uns wirkt, nicht nur ihrer Vermittlung), ist offensichtlich. Die Informationsmedien werden zerrissen zwischen Forderungen, die einander diametral entstehen: hier Objektivität und Neutralität, dort Engagement und Positionierung — ein unauflösliches Dilemma. Angesichts der Hyperproblematiken des 21. Jahrhunderts, vom Klima über Migration und Mobilität bis hin zu Fragen des globalen Friedens, sind belastbare, valide mediale Inputs für das politische Urteilen nötiger denn je. Sie werden aber im Gegenteil immer schwankender, fragmentierter, volatiler. Und alle Korrekturversuche scheinen das Problem eher zu verschärfen, als es zu lösen.
Schwenkt man den Fokus weg von den journalistischen Medien und hin zu den kognitiven, dann stellt sich die Problemlage ganz anders dar. Die Frage lautet dann nicht mehr: Soll ich „objektiv“ oder „positioniert“ berichten (und die jeweilen negativen Folgen, im einen Fall false balance, im anderen Tendenz und Aktivismus, in Kauf nehmen). Sondern sie lautet: Mit welchen Denkmitteln interpretieren wir überhaupt Information? Wie kann man hochwertige, brauchbare „Clues“ von lügenhaften Werkzeug-Attrappen unterscheiden? Was sind die Qualitätskriterien für Denkwerkzeuge — reicht das Kriterium Wissenschaftlichkeit? Und vor allem: Wie kann man die mediale Verfügbarkeit verschiedenster hochwertiger Denkmittel so organisieren, dass jeder Einzelne zu ihrer kompetenten und begründeten Auswahl befähigt wird, und damit auch zu einem kompetenten und begründeten politischen Urteil?
Auf eine Kurzformel gebracht, verschiebt sich die Diskussion damit von der Frage nach der Abbildung der Realität in Richtung auf die Frage nach ihrer Deutung. Und genau das ist auch die Spur zum Kern unseres Problems. Denn die endlosen — und weitgehend fruchtlosen — Konflikte und Streitereien, die das mediale Geschehen derzeit so dominieren, sind nur scheinbar solche um die Wahrheit der Tatsachen. Die liegt in den meisten Fällen offen zutage. Worüber wir uns auseinandersetzen, das ist die Frage, welche Schlussfolgerungen aus ihnen gezogen werden sollen, wie sie zu interpretieren sind. Und diese Frage entscheidet sich nicht an den Fakten, sondern an den Denkmitteln, den Kognitiven, den „Clues“, mit denen man ihnen zu Leibe rückt. Die ihrerseits nicht anders als medial vermittelt zu uns kommen können. Über diese Vermittlung müssen wir reden, um die mediale Krise zu bewältigen.
Wie es weitergehen könnte. Natürlich lassen sich gegen das Modell „Clues vs. News“ zahlreiche Einwände formulieren. Ich wäre selbst der erste, dies zu tun. Beginnen würde ich mit dem Hinweis, dass es doch zumindest fraglich sei, ob News wirklich weiterhin die Grundlage des modernen Journalismus sind und ob Clues oder Kognitive nicht auch in journalistischen Formaten aufbereitet und vermittelt werden können. Auch der Begriff der „Kognition“, wie er in diesem Text gebraucht wird, brauchte zumindest weitere Klärung. Auf so knappem Raum wie hier das ganze Phänomen Medien geradezu „neu und anders denken zu wollen“, kann im Grunde nur schiefgehen.
Andererseits wäre es ein noch grösserer Misserfolg, auf einen solchen Versuch zu verzichten. Meine eigene Wahrnehmung der Medienwelt jedenfalls hat sich, seitdem ich die Kognitionsmittel als einen Medieninhalt eigener Natur betrachte, grundlegend verändert. Ich erkenne nun gähnende Defizite dort, wo ich vorher kaum auf die Idee gekommen wäre, überhaupt nach irgendetwas zu suchen — und sehe, nein, vielleicht auch nur: ahne neue Möglichkeiten, neue Perspektiven, weit über den Horizont des derzeit in der Medienwelt Bestehenden hinaus.
Dennoch: In diesem Text fehlt viel. Es müsste zum Beispiel diskutiert werden, in welchem Verhältnis „Kognitionsmedien“ zu Angeboten der politischen Bildung stehen (es gibt Überschneidungen und Unterschiede), oder wodurch sich das politische Urteilen gegenüber der blossen politischen Meinungsbildung auszeichnet.
Zum letzten kurz: Wenn man sagt, so wie hier angedeutet, dass politisches Urteilen darin besteht, eine Politik-Option mit guten Gründen und bewusst einer anderen vorzuziehen (oder, was aufs Gleiche hinausläuft, die eine zu befürworten und die andere abzulehnen), dann gibt man damit eine denkbare Definition, nicht die einzig mögliche.
Bemerkenswert ist, dass die letzte grundlegende Theorie darüber, wie politisches Urteilen überhaupt funktioniert, von Hannah Arendt stammt, die letzte davor von Kant. Medien spielen in beiden, schon aus historischen Gründen, keine Rolle. Sie sind dafür in Walter Lippmanns analytischem Gross-Essay Public Opinion zentral — aber der ist inzwischen auch bereits 100 Jahre alt, und in ihm geht es eben wieder um Meinung, nicht um das Urteilen.
Es hat den Anschein: Etwas, das für den Zusammenhang von Medien, Gesellschaft, individueller Kognition und Politik absolut zentral ist, wird derzeit in Forschung und Reflexion so gut wie gar nicht zum Gegenstand gemacht. Wir haben keine aktuelle Theorie des medial gestützen, durch medialen Content genährten, durch ihn zustandekommenden politischen Urteilens.
Dabei kann politisches Urteilen anders als medial gestützt gar nicht entstehen. Denn, wie die Berliner Philosophin Sybille Krämer bereits 2003 schrieb: „Alles, was Menschen beim Wahrnehmen, Kommunizieren und Erkennen ‚gegeben ist‘, ist in Medien gegeben“.
Zwanzig Jahre später, nach der digitalen Revolution, die das Internet zu einem menschheitsumgreifenden Meta-Gehirn gemacht hat und uns selbst mehr als je zuvor zu medialen Menschen, lässt sich dieser Satz so buchstäblich lesen wie nie zuvor. Wir können gar nicht anders denken als mit den Informationen und Instrumenten, die durch die Medien zu uns dringen. Entsprechend sorgfältig sollten wir uns auch um sie kümmern.
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Illustrationen: Bernd Schifferdecker