Für nichts scheinen die Zeiten weniger geeignet als dafür, die Welt, wie sie ist, zu preisen oder über sie zu jubilieren. Und dennoch fehlt kaum etwas so sehr wie genau das: der Lobpreis.
Wenn er überhaupt heute irgendwo praktiziert wird, dann in den Religionen. Aber von dort klingt er verschroben, nostalgisch, falsch – warum sollte ich eine Schöpfung preisen, wenn ich die Welt als ein physikalisches Zufallsphänomen aus Masse und Energie verstehe? Warum einem Erlöser danken, wenn überall Qualen sind und niemand erlöst? Wir wissen zu viel über die Religionen, um ihren Lobpreis noch als unseren zu verstehen.
Ich sitze im Zug und fahre durch ein sonniges Hügelland. Links sind die Bäume herbstlich gefärbt, über den Bergrücken rechts hängen satt-dunkle Wolken, an deren Rand das Licht sich bricht. Wären nicht Krieg, Lüge, Elend und das drohend heraufziehende klimatische Verhängnis ständig präsent im Kopf, man könnte hinschauen und sagen: Welche Freude, welch Geschenk, was für eine Welt. Und jetzt, im Augenblick, sage ich es.
Aber die ganze Welt zu preisen, weil sie ist wie sie ist, nicht nur diesen Augenblick, scheint dennoch unangemessen. Pietätlos und vielleicht sogar dumm und schädlich. Denn diese Welt braucht, wenn wir die Tatsache erstnehmen, dass alle Menschen Geschwister sind, massive Veränderung. Allein, um weiter zu bestehen. Wieso sollte man sie dann, wie sie ist, preisen? Im Gegenteil, man muss auf ihre Fehler schauen, diese Fehler ans Licht bringen. Ist es nicht so? Man muss die Umstände kritisieren, um sagen zu können, wie es eigentlich sein sollte.
Aber andererseits: Die Welt zu preisen bedeutet nicht, sie nicht verbessern zu wollen. Eher umgekehrt. Man preist, was man liebt. Und die Liebe zu dem, was ist, ist Voraussetzung für die Liebe zu dem, was sein könnte, zu dem, was möglich zu machen wäre. Ein Mensch, der diese Welt kostbar findet, der sie um ihrer Einzigartigkeit und Unglaublichkeit wegen bewundert und besingt, der in den anderen Wesen die gleiche Einzigartigkeit und Unglaublichkeit erkennt, wird sich schwer tun, etwas in ihr zu zerstören. Die Liebe zu dem, was ist, verschiebt die Massstäbe: Die kleinlichen, missgünstigen Dinge – Rache, Hass, Selbstsucht – verblassen neben ihr, werden schwach und unsinnig.
Aber natürlich kann man nicht alles an der Welt lieben. Nicht das Böse, das Schaden-Wollen, die Gleichgültigkeit gegenüber Unheil und Leid, die Rücksichtslosigkeit, das Messen von Allem nur am eigenen zufälligen Leisten. Es zu preisen, nur weil es Teil der Welt ist, wäre pervers. Es im Namen der Liebe zu bekämpfen wäre das aber auch, denn ein solcher Kampf entfesselt selbst unausweichlich Kaskaden der Zerstörung.
Nennt mich naiv, aber es gibt, scheint mir, nur einen langfristigen Ausweg. Und der lautet, dass auch die Bösen die Welt lieben lernen müssen. Aber ihnen erklären, warum sie das tun sollten, sie mit Argumenten und Gründen überzeugen, kann man nicht. Sie werden immer ein Aber haben. Sie werden immer Gegengründe finden, warum es dennoch etwas zu zerstören gilt, um irgendetwas zu erlangen, warum man dennoch selbst der Wichtigste ist, nur man selbst im Recht ist. Und warum die Rede von der Liebe zur Welt nichts ist als dummes Gewäsch.
Aber man könnte etwas anderes tun. Man könnte allen – auch sich selbst, aber insbesondere denen, die den Willen haben, zu schaden – einen Floh ins Ohr setzen. Den Floh von der Liebens-Würdigkeit der Welt. Davon, wie kostbar sie ist, sie und die Wesen in ihr, wie unglaublich, unerfasslich, geheimnisvoll, überwältigend, schwindellerregend, einzigartig. Wie lob- und preisenswert, allem zum Trotz. Und dieser Floh, damit er nicht von Einwänden und Gründen zerdrückt wird, die sich immer gegen ihn finden lassen, dürfte selbst nichts sein, das überzeugen will. Er dürfte nicht mehr sein als ein Lied. Ein Lied, das sich festsetzt im Ohr, aufgrund seines besonderen Reizes, aufgrund seiner Kraft, das Wunderbare gegenwärtiger zu machen. Ein Lobpreis-Lied, allem Schlimmen zum Trotz, und gerade dieses Schlimmen wegen.
Ein solches Lied, ein solcher nicht argumentierender, nicht streitender, sondern bestaunender, bejubelnder Lobpreis, wäre nicht dumm. Er wäre nicht unangemessen, nicht unehrlich. Er wäre, angesichts der Wirklichkeit, in der wir auf so überaus seltsame Weise zu Gast sind und deren eigentliche Verfasstheit wir doch nie begreifen, etwas Angemessenes, Naheliegendes, fast Zwingendes. Und wenn es überhaupt etwas geben kann, das in der Lage wäre, das Schaden-Wollen, die Gleichgültigkeit, die Rücksichtslosigkeit allmählich aus der menschlichen Existenz herauszudrängen, dann wäre das vielleicht am ehesten ein solches Lied. Ein solcher völlig quer zur aktuellen Zeit gesungener Lobpreis.