Wie ich Anfang der 90er beim Trampen in der Nähe von Auschwitz etwas Nützliches über Russland erfuhr und wenig später meine ersten russischen CDs kaufte.
1.
Sommer 1991. Südpolen, mit dem Rucksack unterwegs. Gutes Wetter zum Draussenschlafen, wird auch bald dunkel, also auf die nächste Wiese, ein Stück weg von der Landstrasse, ein kleines Flüsslein daneben. Erstmal was essen, Käse ist da, Brot … — oh, Besuch. Ein Lada kutschiert auf die Wiese.
Hm.
Die richten sich da irgendwie ein, bauen so ein kleines Campingtischchen auf, Klappstühle.
Jetzt kommen sie rüber. Zweie. Anfang dreissig vielleicht, so Typen … naja. Der eine hält komisch seine Hand. Auf Brusthöhe, Napoleon-artig, drei Finger waagerecht, die beiden anderen versteckt dahinter. Schaut immer auf seine Finger und wackelt mit ihnen, während er spricht. Was ist das überhaupt, Russisch? Wahrscheinlich Russisch.
– Sorry, but I don’t understand what you say.
– Oh, English? America? Deutsch?
– Deutsch.
– Oh, good. Deutsch good. Will be third man? Drink.
– What?
– Look my fingers. You know this sign? We need third man. Drink. Drink Vodka! Come!
Drink Vodka. Will ich jetzt mit denen drink Vodka? Und was soll das mit den Fingern?
– You know, I don’t really drink a lot, I …
– Come. Drink. — Es klingt nicht recht wie eine Frage
– … I could come with you and drink a glass, just one …
– What your name?
2.
Eine matte Funzel steht auf dem Tisch, die ihren Strom aus der Autobatterie bekommt. Etwas zu essen haben sie auch dabei, Fischkonserven, Brot, ein Stück Wurst. Offenbar sind sie nicht das erste Mal so unterwegs.
– Need three people for drink, you know? This sign — three finger — means: Need third man. We only two. You not know? You not know this sign?
I not know. Sie Lachen.
Was machen denn diese beiden hier. Warum rollen sie bei Einbruch der Dunkelheit mit ihrem Lada auf eine einsame Wiese in Polen. Das Auto ist mit irgendwas vollgestopft. Wirkt leicht ramponiert, so ein ausgebleichtes Blau.
– Sell! Market! We Russia, come here, sell things, make money!
Ah so, Russenmärkte. Vermutlich sowas wie ein Polenmarkt, nur eben ein Russenmarkt in Polen. Was verkaufen sie denn?
– Different things. All kind of things. Drink!
Drink, eat. Drink, eat.
Dann ist die Flasche alle. Sie stellen sie auf den Boden neben den Campingtisch, warum, kann doch nichts mehr verschüttet werden? Der eine geht zum Auto, beginnt dort etwas zu wurschteln, packt einen Schlafsack aus. Dann auch der andere, die Autotür schlägt zu. Das ging jetzt schnell.
3.
Vom Auto der beiden Russen bis zu meinem Schlafplatz sind es zweihundert Meter. Oben in einem Baum sehe ich im Dämmerlicht etwas Helles, das sich sachte bewegt. In einem Baum am Fluss. Ein Frauenkleid. Vielleicht auch kein Kleid, sondern ein Unterkleid. So ein feines, leichtes Ding. Hängt in den Ästen wie ein Drachen, der sich da verfangen hat, und weht im Wind immer mal wieder ein Stückchen auf. Wie von selbst. So eine einsame Wiese, wo keiner recht hingucken kann, so eine Stelle am Fluss, so ein hauchzartes Unterkleid, in einem Baum, wie kommt das da hoch? Da muss ja jemand in diesem Kleid gekommen sein, eine Frau, und dann ohne dieses Kleid gegangen. War sie allein? Was ist mit ihr geschehen?
Wohl ist mir nicht.
Dazu das Rattern der Züge.
Ich hatte den Tag die Gedenkstätte Auschwitz besucht. Auschwitz, Oświęcim, ist ein Eisenbahnknotenpunkt, immer noch. Tags auch an dieser Rampe gestanden. Neben mir Gruppen von italienischen Papst-Pilgern, mit metallic-Luftballons mit dem Gesicht von Karol Woytila (er war zur gleichen Zeit in Krakau und Tschenstochau). Stehen mit mir an der Rampe, fotografieren einander, rufen sich laut etwas zu. Kurz zuvor hatten wir vor den Brillen der Toten gestanden, aufgehäuft zu einem Berg in einer Lagerbaracke.
Der Wind trägt das Rattern der Züge herüber, das Frauenkleid wiegt sich im Wind.
Einen Riemen vom Rucksack ziehe ich unter meinem Schlafsack lang, so dass ich merke, wenn er sich bewegt. Geld, Dokumente und das Messer, lang genug, feste Klinge, unter die Isomatte gleich unter meinen Kopf.
Die Nacht habe ich fast nicht oder gar nicht geschlafen. Im Tagebuch am nächsten Tag notiert: Nachts am anderen Ende der Wiese zweimal Licht gesehen von kleiner Lampe oder Feuerzeug. Dann auf einmal Stimmen, Motorstarten. Scheinwerfer von einem grosse Wagen, der wendet und schnell wegfährt. Grösseres dunkles Tier am Schlafplatz, weggejagt. Später dann dauernd umherschleichende Geräusche. Erst Leute vermutet. Waren aber wohl alles Ratten. Kalt und sehr feucht. Im Halbschlaf Träume von Zügen, beladen mit leidenden Menschen, ein beissender Geruch in der Nase, Empfindung, ich läge auf Knochen.
Morgens 4:00 starten die Russen ohne ein Wort ihr Auto und brausen davon. Ich auch gleich im Morgennebel mit Grausen auf Haut Sachen gepackt und weg. Das Frauenkleid wieder hängen sehen.
4.
Zwei Wochen später, nun schon in Nordostpolen, in Suwałki, in der Nähe der Busstation. Ich wollte eigentlich ein Busticket kaufen: In Moskau näherte sich der August-Putsch seinem Ende, ich bekam das eine oder andere mit über Radio BBC und wollte zur sowjetischen Grenze, falls es denn noch eine sowjetische war und nicht eine Litauische. Aber das hier sieht interessant aus: Ein Russenmarkt. Ein Riesenareal. Überall Autos mit Kennzeichen in kyrillischer Schrift, teils wird einfach aus dem Kofferraum verkauft, teils sind Tische mit Waren aufgebaut. Eine Menge Leute unterwegs.
Ich laufe herum, schaue. Klamotten, aller möglicher Krempel, sicher nicht alles aus Russland … Ah, da ist auch ein Wagen in Bleichblau, wie der von meinen Drink-Bekannten. Was gibt es da? CDs. Russische? Tatsächlich. Schade, alle beschriftet in diesen Buchstaben, die eher wie Zeichnungen von Käfern aussehen. Ah nein, nicht alle. Hier ist was auf Französisch. Messiaen, Vingt regards sur l’Enfant Jésus. Pianist: Anton Batagov. Teil eins, Teil zwei. Teil drei — leider nicht dabei.
Wusste ich damals, wer Messiaen ist? Ich fürchte nicht. One of the major contemporary composers, by rights regarded to be a 20th-century classic, sagte der Begleittext, irgendwarum auf Englisch. Immerhin kein Schlager.
So habe ich auf einem Russenmarkt in Polen von russischen Schwarzhändlern meine ersten russischen CDs gekauft. Sie sind nachher mit mir mehrfach umgezogen — ein paar Jahre später dann auch wieder nach Russland, nach Moskau. Und ich habe sie heute immer noch. Und es ist grossartige Musik.
Als ich mich jetzt an diese Geschichte erinnerte, fragte ich mich, ob ich nicht etwas durcheinanderbringe. Gab es damals überhaupt schon russische, genauer sowjetische CDs? Es gab sie — seit Ende 1989. Die ziemlich abenteuerliche Geschichte vom Aufbau der ersten sowjetischen CD-Fabrik ist nachzulesen im Detail hier und hier (auf Russisch). Die ersten Aufnahmen haben Seriennummern der Art SUCD 10–000xx. Die beiden, die ich damals in Polen aufgegabelt habe, sind SUCD 10–00041 und SUCD 10–00042.
Pionierscheiben, sozusagen.
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